Aktfoto einer Frau im Rollstuhl aus der Schwarz-Weiß-Serie "Ganz unvollkommen" von Rasso Bruckert; Foto: Rasso Bruckert

Aktfoto einer Frau im Rollstuhl aus der Schwarz-Weiß-Serie "Ganz unvollkommen" von Rasso Bruckert

Foto: Rasso Bruckert
aus Heft 1/2016 – Report
Benjamin Piel

Bettys erstes Mal

Betty ist 73 und Jungfrau. Noch nie hat ein Mann ihren nackten Körper gestreichelt. Betty ist fast blind und lernbehindert. Noch nie hat sie gespürt, wie das kribbelt im Bauch. „Ick hab Mut“, sagt Betty und nickt, „ick hab Mut“. Es ist Freitagabend im Trebeler Gästehaus. An einem langen Tisch sitzen behinderte Menschen und ihre Betreuerinnen und Betreuer. Kerzen brennen, Kastanien liegen neben bunten Blättern auf der Tischplatte. Einige löffeln Kürbissuppe, andere stehen Schlange am Büfett. „Vorher müssen wir beten“, sagt ein behinderter Mann mit Bart und faltet die Hände. „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.“

„Ich bin Lothar Sandfort und ich bin behindert“, sagt ein Mann, der in einem Rollstuhl sitzt. „Das sehen wir doch, wenn du da in deinem Rollstuhl hockst“, erwidert der Bärtige. Sandfort ist Psychologe und leitet das Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter (ISBB). Heute beginnt ein Erotik-Workshop. Behinderte Menschen, die sich nach Sex sehnen, treffen auf Sexualbegleiter in Ausbildung, die ihnen Sex gegen Bezahlung anbieten. „Wenn ihr ein Date haben wollt, müsst ihr zu dem Sexualbegleiter gehen und ihm oder ihr sagen, was ihr haben wollt“, sagt Sandfort, „ihr könnt Sex haben, müsst ihr aber nicht.“ Betty reißt den Kopf nach oben und lacht auf. „Ick freu mir schon“, sagt sie und ihre feuerrot gefärbten Locken wackeln hin und her.

Betty, lernbehindert und fast blind

Betty kommt aus Berlin-Kreuzberg. „Da schmeißen sie am 1. Mai Flaschen“, sagt sie. Seit Jahrzehnten wohnt sie in einem Behindertenheim in Brandenburg. Früher hat sie in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet, hat Haken an Möbel geschraubt. Seit acht Jahren ist Betty Rentnerin, bekommt 300 Euro im Monat. Sie kann kaum laufen. Langsam setzt sie einen Fuß vor den anderen, krümmt den Rücken, tastet sich an Tischen, Stühlen und Wänden entlang. Betty lebt gerne und redet viel. Ihre kratzige Stimme ist laut. Elf Ringe trägt sie an den Händen, Ohrringe, um den Hals baumelt eine Kette, an der ein großer Bernstein hängt. Wenn sie ihn ganz nah an ihr Auge hält, kann sie manchmal ein Glitzern sehen. Betty lässt sich von ihrem Betreuer ein zweites Glas Rotwein einschenken. „Ich trinke gerne.“ Betty wünscht sich einen Mann, der sie streichelt und massiert. „Ich will einen, der stark ist, und der sagt dann wahrscheinlich zu mir: ,Zieh dich aus, kleine Maus‘“, sagt sie.

Sexualbegleiter Jean

Jean heißt eigentlich nicht Jean. Aber wenn der Mann aus Zürich als Sexualbegleiter unterwegs ist, nennt er sich so. Jean ist um die 60 und Mathematiklehrer. Seit einiger Zeit bietet er behinderten Frauen erotische Dienstleistungen an, massiert sie von oben bis unten, streichelt sie, erfüllt sexuelle Fantasien. „Sex ist nicht immer drin, denn dafür muss ich selbst erregt sein“, sagt er. Er spricht langsam und mit schweizerischem Akzent, zieht die Wörter lang, seine Stimme ist tief und sanft. Von der Sexualbegleitung hat Jean aus dem Radio erfahren. Jetzt ist er fast fertig mit der Ausbildung. Früher hätte Jean sich nicht vorstellen können, mit behinderten Frauen Sex zu haben. Aber dann entdeckte er Tantra, lernte neue Seiten der Sexualität kennen. „Ich kann mich sehr gut einfühlen in die Situation der behinderten Frauen, in ihre unerfüllten Sehnsüchte und das gibt mir unheimlich viel.“ Die Dienstleistung, die er anbietet und für die er 90 Euro in der Stunde bekommt, sei Prostitution, ja, aber keine mechanische Verrichtung von Bewegungen, sondern eine tiefe Begegnung zweier Menschen. „Es fällt mir leicht, diesen Menschen Zuwendung zu geben“, sagt er und streicht sich durch den weißen Schnauzbart. Gerne würde er offen damit umgehen, dass er Sex mit behinderten Frauen hat, aber Jean muss vorsichtig sein. Als Lehrer ist es besonders gefährlich, er fürchtet das Unverständnis. Jean wünscht sich eine Welt ohne dieses Tabu. Seinen vier Kindern hat er davon erzählt, er habe kein Doppelleben gewollt. Eine Frau, der er seine Mission gestehen müsste, gibt es nicht. „Guten Freunden habe ich es auch gesagt“, betont er. Die Freundschaft hat ihm danach niemand gekündigt. In zwei Jahren will er raus aus dem Schuldienst, den er oft als Belastung empfindet.

Betty und Jean

„Ick hab Lust und ick hab Mut“, sagt Betty. Jean setzt sich neben sie. „Weißt du, wie alt ich bin?“ fragt sie ihn, „73 – manche sagen, dass ich jünger aussehe.“ – „Ja, das finde ich auch“, sagt Jean. „Hattest du schon mal einen Mann?“ – „Nein, nein, nie.“ – „Ich habe vier Kinder und ich hatte eine Frau, aber jetzt bin ich geschieden.“ Er nimmt ihre Kette zwischen die Finger. „Ein Bernstein?“ – „Ja, den habe ich mir in Zinnowitz gekauft.“ – „Der ist sehr schön.“ Betty lacht, nimmt Jeans Hand und hält sie fest. „Wie heißt du?“ – „Jean“ – „Jens?“ – „Nein, Jean, das ist ein französischer Name.“ – „Oh, französisch.“ Sie lacht auf. „Ich will den Mann fragen, ob er mich anfassen will.“ – „Ich bin der Mann.“ – „Aaaaah“, sagt sie und zieht die Augenbrauen hoch. „Wir beide machen das“, sagt Jean. „Von mir aus kannst du alles machen“, sagt sie, beugt sich zu ihm vor und kichert. „Aber das besprechen wir dann unter drei Augen“, sagt Betty. Sie hat nur ein Auge, das andere ist aus Glas. Sie zieht ihre Mundharmonika aus der Tasche und spielt. Weißt du, wieviel Sternlein stehen. „Das ist aber schön“, sagt Jean. Bettys Betreuer Mirko hatte vorgeschlagen, nach Trebel zu fahren. In der Einrichtung, in der er arbeitet, gehen viele Mitarbeiter offen mit dem Thema Sex um. Mirko hat einen Arbeitskreis zum Thema gegründet, lädt behinderte Menschen zu Männerrunden ein, veranstaltet Single-Discos, bestellt Sexualbegleiterinnen in die Einrichtung. Seitdem reden Betreuer und behinderte Menschen offener über das Thema. „Zum Glück ist die Leitung aufgeschlossen“, sagt er. Aus Trebel würden die behinderten Menschen verändert zurückkehren: „Viele achten mehr auf ihr Äußeres, sind selbstbewusster, ruhiger, weniger aggressiv, tiefenentspannt.“ Am Sonnabendmorgen treffen sich die behinderten Menschen ohne Betreuer – aber dafür mit Lothar Sandfort. Sie sitzen im Kreis. „Alles, was wir hier reden, bleibt geheim“, sagt er, „denn wir reden jetzt über Sex.“ – „Das ist doch normal“, sagt Betty. „Aber was wir hier machen, das ist nicht normal.“ – „Im Hotel massieren sie doch auch.“ – „Aber im Hotel geht es um die Muskulatur, hier geht es um das Gefühl im Kopf – wenn es im Bauch und in der Scheide kribbelt, dann ist das Erotik“, sagt Sandfort. 

„Wenn du ein Date mit Jean haben willst, dann musst du das sagen, du musst dir vorher ein paar Gedanken machen und sagen, was du willst und was du nicht willst“, sagt er. „Ich will, dass er es mir macht, das habe ich ihm schon gesagt“, sagt Betty. „Das ist gut, aber es hört sich so an, als würdest du zum Schuster gehen, um eine neue Sohle an den Schuh machen zu lassen. Du musst schauen, dass es dir dabei gut geht und du musst auch schauen, dass es Jean gut geht.“ Sie sprechen über Kondome und darüber, dass beim Sex Kinder entstehen können, über Aids und andere Krankheiten. „Mit Sex ist das so, dass beide Partner etwas geben und etwas bekommen“, betont Sandfort, „wir wollen hier kein Bordell sein, sondern wir wollen, dass die, die zu uns kommen, etwas für das richtige Leben lernen. Wenn ihr eine Freundin habt, dann müsst ihr sie ja auch fragen, was sie mag und was nicht.“

„Ich will sexeln“

Ein paar Stunden später gibt es Tantra-Übungen. Die behinderten Teilnehmerinnen und Teilnehmer lassen sich massieren und streicheln, liegen auf dem Boden im sanften Licht, genießen die Berührungen. Am Abend haben Betty und Jean ihr Date. Er zieht sie aus, massiert sie. Betty genießt und will ein zweites Date. „Ich will sexeln“, sagt sie und lacht los. Am Sonntag gibt es das zweite Date. „Ich hatte einen Mann“, sagt Betty, als es zurück nach Brandenburg geht. Betty ist 73, fast blind, lernbehindert – und keine Jungfrau. 

 

Benjamin Piel erhält den Journalistenpreis der deutschen Zeitungen – Theodor-Wolff-Preis 2014 in der Kategorie „Lokaljournalismus“ für diesen Beitrag „Bettys erstes Mal“, erschienen in der Elbe-Jeetzel-Zeitung am 9. November 2013.

Bewertung der Jury

Darf so etwas erlaubt sein? Ist es ethisch akzeptabel? Ist es gar Missbrauch der Betroffenen? Und sollte man als Journalist überhaupt darüber schreiben, ohne dem Leser gleich eine eindeutige moralische Empfehlung mitzuliefern? Diese Fragen stellen sich angesichts des heiklen Themas, das Benjamin Piel in seiner lokalen Reportage unter dem Titel „Bettys erstes Mal“ für die Elbe-Jeetzel-Zeitung in schnörkellosem, direktem Schreibstil aufgreift. Betty, eine 73-jährige, lernbehinderte und fast blinde Frau hat zum ersten Mal in ihrem Leben Sex – mit einem Sexualberater, organisiert von einem Institut, das entsprechende Erotik-Workshops anbietet. Mit seiner Reportage erschließt Benjamin Piel mutig thematisches Neuland und eröffnet den Lesern einen überraschenden Blick hinter üblicher Weise verschlossene Türen. Schon dadurch wird der Leser tief in seine Reportage hineingezogen. Es gelingt Benjamin Piel darüber hinaus, auf sehr unmittelbare Art und Weise zu beschreiben, was er beobachtet und recherchiert hat, ohne die nötige journalistische Distanz zu verlieren. An keiner Textstelle lässt er sich zu Häme, Voyeurismus oder – umgekehrt – unkritischer Sympathie mit der Sache verleiten. Benjamin Piel würdigt mit seiner trittsicheren und zielführenden journalistischen Gratwanderung den mündigen Leser, der sich selbst ein Urteil machen will.

 

Kurzbiographie

Benjamin Piel wurde 1984 in Hagen (Westfalen) geboren. Er hat Neuere deutsche Literatur, Neuere und neueste Geschichte und Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Tübingen studiert. Nach dem Volontariat bei der Schweriner Volkszeitung war er dort bis April 2012 als Redakteur angestellt, bevor er zur Elbe-Jeetzel-Zeitung in den Landkreis Lüchow-Dannenberg wechselte, bei der er seit 2015 Redaktionsleiter ist. Piel schreibt als freier Autor außerdem für „Die Zeit“ und „Spiegel Online“. Mit Frau und Tochter lebt er im Wendland. 

Er wurde unter anderem mit dem „KEP-Nachwuchspreis für engagierte Berichterstattung“ der Christlichen Medienakademie Wetzlar ausgezeichnet, gewann 2012 den Landesmedienpreis Mecklenburg-Vorpommern (Sophie) der Heinrich-Böll-Stiftung und wurde 2012 unter die „Top 30 bis 30“ des medium magazins gewählt. Weitere Auszeichnungen: Im Jahr 2014 Gewinner des Theodor-Wolff-Preises und des Shortlist Ernst-Schneider-Preises, erster Platz  für junge Journalisten des Netzwerks jungejournalisten.de, sueddeutsche.de und der Heinrich-Böll-Stiftung. 2015: Finalrunde Axel-Springer-Preis und zweiter Platz Medienpreis Inklusion des Sozialverbandes Deutschland.