Thema der Ausgabe 4/5/2023:

Diskurs ADHS

„Der herkömmliche Diskurs sucht die Ursachen für ADHS im Körper und die Vernunft soll den Körper beherrschen lernen“(Josef Fragner, Chefredakteur)

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Diskurs ADHS

In so manchem Alltagsgespräch fällt die Bemerkung: „Ein typischer ADHSler“.Wenn die Ausbuchstabierung des Akronyms auch schwerfiele,der Mensch ist plötzlich die Diagnose und die Vorstellungen kommen noch aus den Kinderbüchern.Wer kennt nicht den Zappelphilipp im Struwwelpeter.

Nach‭ ‬Marius Cramer,‭ ‬der dem‭ „‬Geburtsmythus des Zappelphilipps‭“‬ nachspürt,‭ ‬strahlt die abgekürzte Bezeichnung ADHS einen‭ „‬eigentümlichen Denkzauber‭“‬ aus,‭ ‬sie wird beinahe zum Archetypus fast aller Verhaltensstörungen erhoben.‭ ‬Die Ursachen liegen laut diesem Diskurs im eigenen Körper und die Vernunft soll diesen beherrschen lernen.

Auf die Sprachverwirrung,‭ ‬die zu immer mehr widersprüchlichen Positionen führt,‭ ‬weisen auch‭ ‬Manfred Gerspach und‭ ‬Hans von Lüpke in ihrem Beitrag‭ „‬ADHS als Thema von Körper und Sprache‭“‬ hin.‭ ‬Vielen Sprachfiguren kommt keine wechselseitige kommunikative Rolle zu,‭ ‬sie werden nicht von Empathie begleitet.‭ ‬Bei der Einnahme von‭ „‬Ritalin‭“‬ kommen zwei Studien zu völlig gegenteiligen Einschätzungen.‭ ‬Die beiden Autoren betonen,‭ ‬dass das Konstrukt ADHS einem Trend zur Biologisierung der menschlichen Kultur entspringt.

Matthias Wenke schildert den zehnjährigen Derek,‭ ‬der hochaufmerksam Schach spielen konnte,‭ ‬intelligent und empfänglich für Zuwendung war,‭ ‬regelmäßig Ritalin bekam und von sich dachte:‭ „‬Ohne Tabletten bin ich ein Monster.‭“‬ Nach Wenke gibt es keinen einzigen spezifischen neurobiologischen Indikator für ADHS.‭ ‬Wenke orientiert sich an der Individualpsychologie Alfred Adlers,‭ ‬die danach fragt:‭ „‬Wie würde ich mich fühlen,‭ ‬wenn ich in seiner Haut steckte,‭ ‬mich an seiner Stelle befände‭?“‬ Es geht in einer körperorientierten Beratung und Therapie um die Einfühlung in die Emotionen,‭ ‬den Körper und den Energiezustand,‭ ‬nicht um die Inhalte einer Geschichte.

Philipp Abelein,‭ ‬der den Themateil dieses Heftes kuratiert hat,‭ ‬zeigt in seinem Beitrag,‭ ‬dass sich Struktur von Schule und Unterricht konträr zu den Bedürfnissen von Kindern mit ADHS verhalten.‭ ‬Primäres Ziel ist es dabei,‭ ‬die Kernsymptome von ADHS zu verringern und schulisch erwünschte Verhaltensweisen aufzubauen.‭ ‬Im Gegensatz dazu könnte man fragen,‭ ‬ob ein auffälliges Verhalten eine wichtige innere Funktion erfüllt,‭ ‬um eigene Ansprüche durchzusetzen,‭ ‬den Selbstwert zu steigern oder fehlende Aufmerksamkeit auszugleichen.

Bernhard Rauh zeigt die vielfältigen Barrieren auf,‭ ‬mit denen Studierende mit ADHS konfrontiert sind. Diese passen nicht in die Konstruktion vom durchschnittlichen Studierenden und ihre Erschwernisse sind nicht sofort sichtbar.‭ ‬Es geht nicht nur um Chancengleichheit,‭ ‬sondern um Chancengerechtigkeit durch die Berücksichtigung von Nachteilen und deren Ausgleich.‭ ‬Eine Vision wäre,‭ ‬dass die Studien-‭ ‬und Prüfungssituation so gestaltet wird,‭ ‬dass den Bedarfen möglichst vieler Studierender entsprochen wird.

Unser Magazinteil ist wieder eine Fundgrube:‭

Anne Engelmann schildert ihr verflixtes Kurzzeitgedächtnis,‭ ‬das jedes Geräusch,‭ ‬jede Bewegung registriert.‭ ‬Gedankenlärm,‭ ‬in dem sich jeder Gedanke gleich wichtig macht,‭ ‬aber auch sprühende Fantasie und unbändige Begeisterung für neue Projekte sind ihre ständigen Begleiter.

Beatrice Gnaegi legt den Fokus auf die Sichtweise der betroffenen Familien.‭ ‬Eltern fühlen sich oft missverstanden,‭ ‬nicht ernst genommen und allein gelassen.‭ ‬Nicht selten werden sie mit starken Vorwürfen konfrontiert.

„‬Hilft oder schadet die Diagnose‭?“‬,‭ ‬fragt‭ ‬Anna Bischoff.‭ ‬Die Einordnung in die diagnostische Kategorie liefert keine wirkliche Erklärung.‭ ‬Die medikamentöse Unterdrückung der Symptome unterbindet eine vertiefende Suche nach dem Sinngehalt hinter den Symptomen.‭ ‬Nach dem Motto,‭ ‬wer stört,‭ ‬müsse eine Störung haben,‭ ‬geht es verstärkt darum,‭ ‬das Kind an das System und nicht das System an das Kind anzupassen.

Die erste Begegnung mit Sofie brachten wir‭ ‬2019,‭ ‬nun sind vier Jahre vergangen.‭ ‬Snezhana von Büdingen-Dyba,‭ ‬die eine langjährige Freundschaft mit Sofie verbindet,‭ ‬zeigt uns in eindrucksvollen Bildern deren Alltag.‭ ‬Sie lebt nach wie vor auf dem Bauernhof mit ihren Eltern und hofft,‭ ‬bald ihre große Liebe zu finden.

Die Republik Österreich hat vor‭ ‬15‭ ‬Jahren die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet.‭ ‬Im August fand die zweite Staatenprüfung statt.‭ ‬Christine Steger und‭ ‬Petra Flieger waren dabei und berichten,‭ ‬dass Österreich in Genf keine gute Figur gemacht hat.

Josef Fragner,‭ ‬Chefredakteur

 

Inhalt:

Artikel
Das verflixte Kurzzeitgedächtnis
Die Diagnose war für mich eine Erleichterung
Das tut Kind und Eltern weh
Das ADHS-Dilemma: Hilft oder schadet die Diagnose?
Edward
Die Geschichte von Edwards Fröschebuch
Zauber des Lebens
ADHS als Thema von Körper und Sprache
Der Geburtsmythos des Zappelphilipps
"ADHS" - Geronnene Gewohnheiten
Prinzipien für den Unterricht bei Schüler:innen mit ADHS - eine Analyse
Fantasievolle Werke ohne Namen
Mit ADHS studieren - hochschulische Strategien, Barrieren und angemessene Vorkehrungen für Teilhabe
Bildungsprojekt in Armenien
Ans Meer
Der Mensch mir gegenüber
Österreich auf dem Prüfstand des UN-Fachausschusses
Besorgte Mahnungen und dringende Empfehlungen
"Der Wind bläst auch ins Glück"
50 Jahre Steirische Vereinigung
Der Populismusvorwurf als Feigenblatt
20 Jahre Kunsthaus Graz: Gelebte Barrierefreiheit?
Erfolge für Barrierefreiheit
Theater Rampe in Stuttgart
Eine Frage der Gerechtigkeit
Freaks als Geschäftsmodell
Momo - künstlerische Neuinterpretation einer zeitlosen Geschichte
Der basale Garten von Althea
Bücher