Willi,  seine Schwester Olivia und Mama Birte Müller liegen miteinander spaßend auf einer Decke im Gras.

Sohn Willi gibt dem Leben von Familie Müller genau den Anteil absurden Nonsens, um diese Welt aushalten zu können.

Foto: Matthias Wittkuhn
aus Heft 6/2019 – Willis Insiderwissen
Birte Müller

Bist du neurotypisch oder was?

Sitzen eine Normalo-Mutter und eine Behinderten-Mutter mit ihren Kindern im Café. Sagt die Mutter des neurotypischen Kindes: „Mein Sohn ist so intelligent! Er konnte schon mit zehn Monaten laufen.“ Denkt das behinderte Kind: „Was für ein Depp, ich hab mich schön bis zum sechsten Lebensjahr tragen lassen.“

Der Witz ist natürlich diskriminierend Normalo-Müttern gegenüber, ich finde ihn aber trotzdem ziemlich witzig. Der Ausdruck neurotypisch ist mir erst vor Kurzem das erste Mal untergekommen. Aber ich durfte feststellen, dass ich damit ausnahmsweise mal eine Bezeichnung vor anderen Müttern kannte. Das lag aber natürlich nur daran, dass er aus der Behindertenszene kommt. Sonst kenne ich nämlich nie ein neues Wort vor den anderen. Ich habe in der Regel auch die Worte, die zum Anglizismus des Jahres gewählt werden, noch nie gehört – danach höre ich sie dann aber ständig. Der Terminus neurotypisch wurde ursprünglich von Menschen mit Autismus geprägt, und bezeichnet schlichtweg Nicht-Autisten. Seit einiger Zeit höre ich ihn öfters als mehr oder weniger ernsthaftes – oder auch mehr oder weniger abfälliges – Wort für normal.

Zurückdiskriminieren

Vielleicht möchte man da gerne mal zurückdiskriminieren. Tut ja auch manchmal ganz gut. Zum Glück hat sich hier ausnahmsweise kein Anglizismus durchgesetzt, das war wahrscheinlich einfach zu anstrengend mit der Aussprache: Neurologically Typical. Aber wer weiß, vielleicht sagen die Sozialpädagogik-Studierenden bald, ein Kind sei völlig NT, so wie vor 20 Jahren die GeschichtsstudentInnen, die alle ständig PC gesagt haben für political correct. Übrigens war der Ausdruck StudentInnen damals gendertechnisch PC, aber alles Mögliche andere war natürlich nicht PC – und NT zu sagen wäre es bestimmt auch nicht. Heute wird in diesen Studiengängen anscheinend noch genau so viel herumtheoretisiert wie früher. Neulich sagten mir nach einer Lesung an einer Uni ein paar Sonderpädagogik-Studis – Studies, auch nicht PC, weil Diminutiv, aber wenigsten geschlechtermäßig neutral, ganz ohne Sternchen – es wäre toll gewesen, mal so konkret etwas über ein behindertes Kind zu erfahren. Ich war ziemlich schockiert, immerhin dachte ich, das Studium würde die jungen Leute auf die Arbeit mit behinderten Menschen vorbereiten. Aber sie erzählten mir, dass sie sich momentan hauptsächlich mit der Frage beschäftigen würden, ob Behinderung nicht ein soziales Konstrukt sei.

Toilettengang lehren statt theoretische Probleme wälzen

Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal auf die Theorie gestoßen bin, Behinderung sei nur ein gesellschaftlich geschaffenes Konstrukt der Wirklichkeit, fand ich den Gedanken revolutionär. Immerhin schaffen wir Menschen ja durch unser Handeln und Denken erst Begriffe wie „normal“ oder „behindert“. Allerdings muss ich gestehen, dass mich dieser Ansatz im Alltag mit meinem behinderten Kind nicht wirklich weitergebracht hat. Denn mein Sohn macht mit 12 Jahren in die Windel, das ist nun mal ganz objektiv betrachtet menschlicher Kot und kein gesellschaftliches Konstrukt. Ich wünschte mir Sozialpädagogen, die im Studium praktisches Wissen vermittelt bekommen, wie sie einem Kind wie Wille den regelmäßigen Toilettengang beibringen können, statt nur theoretisch über die soziale Wirklichkeit zu lamentieren. Außerdem: Der Sozialkonstruktivismus ist ja selbst nur sozial konstruiert und damit an sich absurd! Na egal, ich bin ja kein*e Student*in, sondern Mutter und habe somit Dringenderes zu tun, als mich lange mit theoretischen Problemen zu befassen – ich muss zum Beispiel Windeln wechseln.

 

Ein weiteres Top-Thema der Studierenden ist – mal wieder – das Problem der Benennung behinderter Kinder. Zurzeit sagen sie in Deutschland GE-Kinder, was für Kinder mit Förderbedarf geistige Entwicklung steht. Das kapiert zwar fast niemand mehr, aber sie wissen einfach nicht, was sie sonst sagen dürfen. Für mich steht weiterhin fest: Je mehr wir um den heißen Brei herumreden, desto mehr neue Unworte entstehen. Darum kommt es ja überhaupt zu den vielen Wortkreationen in diesem Bereich. Gerne bedient man sich ja in der englischen Sprache, da klingt’s ja in der Regel immer gleich viel cooler. Sehr beliebt ist da weiter der Ausdruck „Handicap“– der für mich aber immer mehr nach Golf klingt, als nach Behinderung. Ich denke übrigens beim Wort „Status“ bei Facebook oder WhatsApp auch jedes Mal an einen epileptischen Anfall und nicht an irgendwelche Emojis oder überflüssige Fotos, die andere Leute von ihrem Essen gepostet haben. Auch mit dem Ausdruck Influencer – wieder so ein Wort, das alle vor mir kannten – assoziiere ich bis heute eher Grippeviren als einen YouTube-Star, dem alle Jugendlichen nachrennen. Und wenn es im Radio heißt, es käme auf der Autobahn auf 20 Kilometern zu Behinderungen, dann frage ich mich in Gedanken gerne, zu welchen Behinderungen es da wohl genau kommt: Down-Syndrom, Fragiles-X-Syndrom oder vielleicht Angelman-Syndrom?

Besondere Bedürfnisse?

Worüber ich aber ernsthaft länger nachgedacht habe, ist die aus dem Englischen übertragene Bezeichnung „Special Needs“: Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Gut, manche Bedürfnisse hat er deutlich stärker oder länger als die meisten anderen Kinder. Zum Beispiel das nach Windeln, Blasmusik, Murmelbahnen oder zum Beispiel nach dem Film „Michel aus Lönneberga“, den Willi seit über einem Jahr allabendlich schaut. Er hat natürlich auch, wie jeder Mensch, das Bedürfnis nach Kommunikation, und die läuft dann schon ziemlich besonders ab, weil er ja nichts sprechen kann. Aber das Bedürfnis selber? Das ist eigentlich doch ganz normal. Mir scheint es manchmal so, als habe Willis neurotypische Schwester Olivia mehr besondere Bedürfnisse als ihr behinderter Bruder. Sie muss zum Beispiel UNBEDINGT alle Getränke durch einen Strohhalm trinken (Strohhalme hütet sie wie Schätze, weil ich mich weigere, neue zu kaufen). Und gestern musste sie UNTER ALLEN UMSTÄNDEN aus ihrem Leberwurstbrot mithilfe eines Keksförmchens das Wort Olivia ausstechen, bevor sie es essen konnte. Danach mussten ich ihr übrigens noch ZWINGEND um 21 Uhr Lockenwickler ins Haar drehen. DAS nenne ich besondere Bedürfnisse oder echt neurotypisch, oder einfach nur: Typisch meine Tochter?

Willizismus

Vielleicht, dass er – ganz anders als ich – mit ganz wenigen Worten und sogar ganz ohne jegliche Wortklauberei durchs Leben kommt. Ich denke, wir sollten unbedingt jedes Jahr einen Willizismus des Jahres veröffentlichen. Der Willizismus ist dann eine Lautfolge, die nur Willi wirklich versteht – oder vielleicht nicht mal das – die von ihm (und dann bald von allen bei uns im Haus) aber exzessiv benutzt wird. Letztes Jahr war das sicher „Batza-eh“, dieses Jahr abgelöst von „Sasasasaeh“. Dann muss es noch Willis Talker-Wort des Jahres geben, denn auch mit einem Sprachcomputer sucht er sich von Zeit zu Zeit ein einzelnes Wort aus, welches dann – aus uns unbegreiflichen Gründen – unendlich oft und zusammenhanglos wiederholt wird. Zwei Jahre hintereinander hätte das Wort „Wellensittich“ gewonnen, letztes aber Jahr abgelöst von dem Wort „Obstsalat“. Eigentlich ist Willi ein wandelndes Dada-Kunstwerk! Er ist ein wahrhafter Surrealist und gibt unserem Leben genau den Anteil absurden Nonens, um diese Welt aushalten zu können. Er ist und bleibt einfach das Kind, das zu uns passt! Trotzdem, ich würde mich sehr freuen, wenn das Wort „Mama“ mal das echte Willi-Wort des Jahres werden würde… 

…ich bin eben auch irgendwo noch eine neurotypische Mutter.