Porträtfoto der rothaarigen, 13jährigen Joscha

Ich bin Joscha … weiblich, 13 Jahre alt, Autistin. Und das hab ich zu sagen.

Foto: privat
aus Heft 4/5/2017 – Aus Betroffenensicht
Joscha Röder

Ich bin Joscha...

weiblich, 13 Jahre alt, Autistin. Und das hab ich zu sagen:

Der Artikel „Gehört dazu“ vom 8. Juni (siehe Artikel auf den vorhergehenden Seiten) beschäftigt mich sehr. „Für das Kind war der Besuch beim Schularzt ein großes Ding“, schreibt Stefanie Flamm im ersten Satz. Wenn Mama über mich schreibt, fangen ihre Sätze auch immer an mit „das Kind“. So als wäre ich nicht ihres.

Mama sagt, sie musste schon in der neunten Woche der Schwangerschaft Vokabeln lernen wie Kleinhirnhypoplasie und Balkenagenesie. Später kamen weitere hinzu. Hier ein Teil der Liste: Tetraparese, septooptische Dysplasie, Cortexdysplasie, Pachygyrie, Heterotopie, Aquäduktstenose, dysplastische Hippocampusformation, Arachnoidalzyste.

Das muss keiner auswendig lernen. Man kann es im Ordner abheften. Es reicht, wenn ich sage: Ich bin Autistin und körperlich behindert. Ich besuche mit Schulbegleitung die siebte Klasse einer Gesamtschule. Mit acht war ich wegen Epilepsie im Krankenhaus. Nach der Magnetresonanztomografie (MRT) meines Gehirns flüsterte eine Ärztin zu Mama: „Wie kommunizieren Sie mit Ihrem Kind?“ – Mama sagte: „Warum fragen Sie sie nicht selbst?“ – Ich sagte: „In aller Regel verbal“ Das erzählt Mama oft. Sie ist stolz auf mich und will anderen Mut machen. Es ist mir manchmal peinlich. Zu viel Mut auf meine Kosten.

Was ich verstehe: In meinem Kopf sieht es ganz anders aus als in normalen Schädeln. Nicht selber greifen, gehen, sprechen, sehen, essen, atmen können – das nennt man schwerstmehrfachbehindert. Das erwartete die Ärztin nach diesem MRT.

Das erwarteten auch die Menschen beim Gesundheitsamt. Vor dem Kindergarten bekamen wir dort einen Zettel, auf dem stand: „Eine Integration in einer Regeleinrichtung ist in Anbetracht der komplexen geistigen und körperlichen Behindrungen (!) ausgeschlossen.“ Ich konnte das lesen. Der Rechtschreibfehler ärgerte mich. Mama tröstete mich: Die Frau ist halt sparsam in Verstand und Gefühl. Das ist ein Beispiel für Ironie und Metapher in einem. Ich habe erst später verstanden, dass Mama nicht den Rechtschreibfehler meinte.

Ich bin anders. Bei vielen Dingen brauche ich Hilfe. Ich kann mich nicht gut anziehen oder mir Essen machen, noch nicht allein rausgehen oder einkaufen. Ich kann mir keine Gesichter merken. Verwechsle Mann und Frau und alt und jung, Papa mit dem Papst, weil beide graue Haare haben. Manchmal vergesse ich, Augen und Hände zusammen zu nutzen. Ich kleckere, und mir fällt viel hin. Ich weiß nicht, wie man mit Fremden spricht. Daheim oder mit Begleitung nimmt mir das meist keiner übel. Ich sei gut so, wie ich bin. „Vergiss das nie“, sagt Mama.

Im Buggy musste mir jeder die Autokennzeichen buchstabieren. Darüber habe ich lesen gelernt. Ich hatte die Zeitschriften und Hörbücher von Marvi Hämmer. Darüber habe ich Englisch gelernt. Es war nicht wichtig, dass ich mit vier noch nicht gehen konnte und mit den Fingern aß. Die Computermaus ist leichter zu bedienen als Besteck.

Was mir leichtfällt und ich gern mache: Sprachen lernen, am Computer spielen, Wortspiele und Kreuzworträtsel, Zeitschriften lesen, tauchen, Popmusik hören, essen gehen, Schulbegleiterinnen besuchen, die ich als Freundinnen sehe, obwohl sie Geld bekommen, wenn sie mit mir zusammen sind.

Ich möchte erzählen, was mir zu Inklusion einfällt. Behinderte haben das Recht zur Teilhabe. Das steht in einer UN-Konvention. Die Nichtbehinderten sollen die Bedingungen dafür schaffen. Das tun sie aber nicht. Und schon gar nicht richtig.

Ich war in einem heilpädagogischen Kindergarten. Dort sollte ich soziale Kommunikation lernen. Das Problem war, dass in der Gruppe kein Kind sprechen konnte. Dann kämpfte Mama um einen Platz in einem integrativen Kindergarten. Das haben Leute aus verschiedenen Ämtern verhindert, obwohl Mama einen Platz für mich gefunden hatte. Ich habe dann viele Tests mitgemacht. Wenn es um Gutachten über mich ging, waren Defizite immer wichtiger als das, was ich kann.

Dann war eine inklusive Grundschule bereit, mich zu nehmen. Da mischte sich aber ein Schulrat ein. Er sagte, ich könne nicht auf diese Schule, weil wir zu weit weg wohnten. Das war Quatsch. Es gab keine Schule, die näher war. Er war einfach radikal gegen Inklusion und sagte das auch. Ich habe im Internet gefunden, dass dieser Mann jetzt die Projektgruppe Inklusion im Schulministerium leitet.

Ich durfte dann doch auf die Regelschule. Das haben ich und viele andere Behinderte einem Bürgerbegehren zu verdanken. Ich weiß noch, dass Mama damals fast nur am Schreibtisch saß. Anträge, Formulare, Gutachten, Artikel, Mails. Das ging ewig so: Antrag, Ablehnung, Widerspruch. Und von vorn.

Ich habe ein Cambridge-Zertifikat in Englisch für Fortgeschrittene. Ich habe beim WDR einen Preis gewonnen für ein Gedicht. Es wurde von bekannten Schauspielern vorgetragen. Die Schule bekam einen Preis. Der dpa-Artikel hat die Überschrift „In Inklusion eine Eins“. Ich kam sehr viel darin vor.

Toll auf der Grundschule war: Die anderen Kinder fanden nicht schlimm, dass ich anfangs noch Windeln trug. Sie akzeptierten mich, wie ich war. Plötzlich konnte ich Mitschülern helfen in Deutsch und Englisch. Sie bewunderten meinen Laptop. Ich habe mir einiges von ihnen abgeguckt. Das Lehrertandem war klasse. Alle waren für Inklusion.

Aber jetzt, auf der Gesamtschule, geht die Kämpferei weiter. Dass ich Schulbegleitung und Schülerspezialverkehr brauche, muss Mama ständig beantragen. Für meine Autismus-Therapie und die Klassenfahrt muss sie Extra-Anträge stellen. Die werden monatelang nicht bearbeitet und dann abgelehnt oder gekürzt. Das Amt schreibt: Ich darf an der Klassenfahrt teilnehmen. Aber das sei noch keine Bewilligung einer Begleitung. So als wüssten die nicht, dass ich mit 100 Prozent Behinderung ohne Hilfe nicht kann.

Inklusion scheint in Deutschland ein wildes Durcheinander. In jedem Bundesland ist es anders. Sogar in einer Stadt ist es unterschiedlich. Eine Schulbegleiterin von mir ist jetzt Sonderpädagogin. Sie hat mir erzählt: An manchen Schulen gibt es einen Lehrer und einen Sonderpädagogen in jeder Klasse mit Behinderten. An manchen Schulen gibt es insgesamt nur einen Sonderpädagogen.

Der ist dann für alle Behinderten allein zuständig, weil die anderen Lehrer nichts damit zu tun haben wollen. Er hat dann eine Stunde pro Woche Zeit für ein behindertes Kind. Und soll auch für die sogenannten normalen Krachmacher sorgen. Mich wundert nicht, wenn Lehrer gegen Inklusion sind. Sie haben einfach schlechte Bedingungen für die Umsetzung.

Ich habe vom Landtagswahlkampf in NRW so viel verstanden: Laschet und dieser Heini von der FDP (ich vergesse immer seinen Namen) sind wieder für die Förderschulen. Ich verstehe das nicht: Warum öffnet man nicht Förderschulen für nicht behinderte Schüler? Dort sind doch Aufzüge und all das, was bei den anderen Schulen angeblich so viel kostet? Wenn ich Nachrichten höre, denke ich: Politiker wie diese machen mir nicht weniger Angst als Trump.

Kennen Sie Behinderte? Können Sie sich vorstellen, selber auf Hilfe angewiesen zu sein? Haben Sie vergessen, dass Behinderte ein Recht haben auf Inklusion?

Ich habe Angst, wenn es heißt, wir seien zu teuer. Papa sagt, ich solle nachdenken: Wie viele Menschen lebten davon, dass es Menschen wie mich gibt? Wie viele Beamte und Angestellte, wie viele Ärzte, wie viele Betreuer? Daran musste ich denken, als ich den Artikel von Stefanie Flamm las: Wie viel verdient eine Schulärztin, die Sätze von sich gibt, dass ein Down-Syndrom-Junge doch überhaupt nichts lernt? Wann lernt sie etwas? Sie sollte 20, 30 Jahre in die Zukunft schauen. Vielleicht sieht sie sich im Altenheim, wie sie Pipi macht und vergesslich ist. Auf Verständnis, Unterstützung und Toleranz angewiesen.

Ich will keinen Schutzraum. Ich will nicht, dass ich betteln muss um Teilhabe. Ich will dazugehören, wie ich bin. Ich will, dass die Behörden und die Medien aufhören, Behinderte wie lästige Mängelexemplare zu behandeln oder wie Sozialschmarotzer. Mama hat aufgehört, als Verlagspressesprecherin zu arbeiten, als ich auf die Welt kam. Wir brauchen ganz wenig Geld. Aber wir brauchen Anerkennung.

In meinem letzten IQ-Test habe ich Bereiche, in denen ich 146 als Note bekomme, andere Bereiche, in denen ich mit 68 beziffert werde. Ich bin also hochbegabt und geistig behindert in einem. Mein Durchschnitt liegt bei 106. Ich bin also Durchschnitt. – Können Sie sich vorstellen, was ich von IQ-Tests halte? Wie sind Ihre IQ-Werte? Und wozu das Ganze?

Meine Stärken in der Schule sind Fremdsprachen. Ich habe in Englisch zwei Klassenstufen übersprungen. Als zweite Fremdsprache habe ich in der sechsten Klasse Französisch gewählt. Gleichzeitig habe ich mit Spanisch angefangen, obwohl man die dritte Fremdsprache offiziell erst ab der achten Klasse macht. Ich stehe in allen Sprachen, auch in Deutsch, zwischen „sehr gut“ und „gut“.

In Mathe stand ich auf „sehr gut“ im vorletzten Zeugnis. Weil: Theoretisch kann ich alles Mögliche errechnen. Jetzt bekomme ich in Mathe keine Note mehr. Warum? – Weil ich in der Praxis nichts von dem verstehe, was ich berechne. Ich kann den Unterschied zwischen Meter und Zentimeter oder den zwischen Euro und Cent nicht begreifen. Das hängt damit zusammen, dass ich nur zweidimensional sehe. Die Bildverarbeitung in meinem Hirn ist so, dass ich Größen und Entfernungen nicht unterscheiden kann. Für mich ist unbegreiflich, dass ein Spielzeugauto in meiner Hand und das Auto unten auf der Straße unterschiedlich groß sein sollen. Dass ich in das eine einsteigen kann und in das andere nicht. Also bin ich geistig behindert, nicht wahr? Ja, in solchen Punkten bin ich das.

Ich habe schon ein Kinderbuch aus dem Englischen und Spanischen übersetzt. Die Autorin hat es prüfen lassen und war damit sehr zufrieden. Von zwei angesehenen Übersetzerinnen habe ich Zeugnisse über Kurzpraktika. Sie haben mir Anerkennung für meine Arbeit geschenkt. Ich sei richtig gut, sagen sie.

Und wie sieht es mit meinen Chancen zur weiteren Inklusion aus? – Laut Schulgesetz hat keiner einen Nachteilsausgleich für Dyskalkulie. Bei Legasthenikern ist das anders, da wird die Rechtschreibung nicht gewertet. Dabei ist mein Problem ja nicht das Rechnen als solches. Ich habe eine andere Wahrnehmung. Mir kommt das so vor, als verlangte einer vom Rollstuhlfahrer Stabhochsprung. Wenn ich in der neunten Klasse keine Drei in Mathe habe, kann ich das Abi vergessen.

Wochenlang labert Mama: Mathe und Deutsch wird geprüft für den Übergang in die Oberstufe. Man braucht in allen Fächern mindestens ein Befriedigend. Ein Inklusionsfachberater hatte die Idee, als Nachteilsausgleich Mathe durch Englisch und Deutsch zu ersetzen. Dann wird er belehrt: Das ginge nur, wenn ich als Förderschwerpunkt auch „geistige Behinderung“ hätte. Habe ich aber offiziell nicht. Komplexe Hirnfehlbildung. Ich kann das nicht mehr hören. Ich habe als Förderschwerpunkt nur „körperliche Behinderung“. Wäre ich als geistig behindert eingestuft, hätte ich kein Anrecht auf irgendeine Note – und damit auch überhaupt auf keinen Schulabschluss. Ich habe Urkunden im Englisch-Wettbewerb „Big Challenge“: NRW Platz 3, bundesweit Platz 27. – Kein Schulabschluss ...

Ich merke immer mehr, dass ich in diversen Bereichen dauerhaft auf Unterstützung angewiesen sein werde. Und dass die Stimmung in Sachen Inklusion immer mehr kippt. Eine Frau sagt zu Mama: Warum behandeln die meinen Jungen, als wäre er ein ekliges Insekt? Anderssein ist ein Verstoß gegen die Leistungsgesellschaft. Mama labert wie gewohnt. Wann hat sie Zeit für mich?

Wir waren auf einer Ausstellung von Down-Syndromlern. Da war so viel Buntes. Astronauten, Menschen vom anderen Stern. Kunst und Schauspiel. Das sollten Autisten auch mal machen. Da war auch ein Raum über das, was man mit Behinderten im Nationalsozialismus getan hat. Ich frage Mama: Aber das kommt nicht wieder? – Sie sagt: Wo denkst du hin, natürlich nicht. Aber ich habe es gesehen: wie sie schluckte.

Was wird aus mir, wenn meine Eltern nicht mehr sind? Meine Mama kann die Frage nicht mehr hören. Sie hatte selbst eine Hirn-OP wegen Aneurysmen und Angiom, die nicht gut gelaufen ist. Sie hat jetzt auch einen Schwerbehindertenausweis. Sie hat laut einem neuen Zettel vom Arzt immer noch Aneurysmen oder schon wieder, will sich aber nicht mehr operieren lassen. Sonst besteht sie darauf, mir alles zu erklären. Aber darüber redet sie nicht mit mir.

Es wird immer jemand für dich da sein, behauptet sie. Wir haben immerhin die UN-Konvention zur Integration Behinderter. Blabla. Wie lange noch?

 

Dieser Beitrag ist von Joscha Röder als Leserbrief in der ZEIT am 6. Juli 2017 erschienen und nimmt Bezug auf den Artikel „Gehört dazu“ von Stefanie Flamm (siehe S. 4–6), erstmals erschienen am 8. Juni 2017 in der ZEIT. Mit freundlicher Genehmigung von Joscha Röder.