Ein älterer Herr sitzt auf einem Sessel im Eck eines Stiegenaufganges.

Seit vier Jahren lebt der Vater des Autors mit Demenz.

Foto: Andreas Wenderoth
aus Heft 3/2017 – Leben mit Demenz
Andreas Wenderoth

Sein und Nichtsein

Häufig versunken in Nebel und dunklen Gedanken, wenige lichte Momente – seit vier Jahren lebt der Vater des Autors mit Demenz. Die Krankheit hat beide verändert.

Seit vier Jahren wüten Diebesbanden in meinem Vater und räumen ihn langsam aus. Seine Fähigkeiten, seine Vorlieben, seine Gedanken, seine Identität. Die Demenz ist ein stückweises Sterben. Jeden Tag geht etwas Neues in meinem Vater verloren. Wir möchten ihn festhalten, aber er entgleitet uns. Immer seltener dringen wir zu ihm durch. Überfordert von den übermenschlichen Anforderungen, die die Demenz fast immer an den Lebenspartner stellt, hatte meine Mutter irgendwann eingewilligt, ihn in ein Heim zu geben. Sechs Wochen lang hat sie zugeschaut, wie er ihr täglich sein Leid klagte. Dann hat sie ihn in einem heroischen Akt wieder nach Hause geholt. Er bekam einen neuerlichen Schlaganfall, ihre Kraft schwand, und ein Jahr später war er wieder dort, wo er nie sein wollte. Dass sie ihm einige Monate später in dasselbe Heim folgte – bis auf trennende hundert Meter miteinander vereint –, ist ihm kein Trost. Doch mit den dichten Nebeln, die sich über ihn senken, schwindet auch seine Kraft zur Rebellion. 

Wie ein verwundetes Raubtier

Nach der jüngsten Attacke auf sein Gehirn, die ihm einen Großteil der verbliebenen Sprache geraubt hat (die in seiner Demenz bis dahin so kreative und poetische Bilder hervorgebracht hatte), zeigte er sich in der Notaufnahme im Klinikum noch einmal ungewohnt aggressiv. Drohte mit einem „Skandal“, bezeichnete uns als „Lügner“ und weigerte sich, im Wartebereich still zu sitzen: „Ich weiß doch, welches Spiel hier gespielt wird!“ Stand auf, mit massigem Körper, und zog durch Krankenhausgänge, in denen wir ihn wieder einfangen mussten. Weil er den Arm gegen mich hob („Wer sich mir in den Weg stellt, wird von dieser Faust zerschmettert“), wandte ich mich um Hilfe an eine Schwester, die mich mit dem Satz „Sie werden doch wohl Ihren 90-jährigen Vater stoppen können!“ in weitere Hilflosigkeit stürzte. Natürlich, rein körperlich mag sie recht gehabt haben, aber sie hatte nicht seinen Blick gesehen. Wie ein verwundetes Raubtier auf der Flucht hatte er mich panisch angeschaut, fremd und doch mit gefährlicher Entschlossenheit. Nur „unter Protest“ blieb er an jenem Abend im Krankenhaus. 

Klarheit oder stärkere Nebel?

Fast sehnen wir uns heute ein bisschen nach diesem Widerstandswillen zurück. Jetzt, da er seine Tage in winterlicher Erstarrung mehr oder weniger hingestreckt auf dem Bett eines Pflegeheims verbringt. In einem Einzelzimmer, weil er den Kontakt mit anderen ablehnt, der ihm so gut täte, weil es der einzige Weg wäre, die Monotonie jener zäh zerfließenden Zeit zu durchbrechen; da er seine innere Welt nun mit niemandem mehr teilen will, stellt sich immer seltener die Frage, die ich mir selbst in den vergangenen Jahren oft gestellt habe: Wünsche ich ihm mehr Klarheit oder stärkere Nebel, die ihm die Erkenntnis verstellen, in welch würdeloser, vollständig abhängiger Lage er sich befindet? Die Nebel haben obsiegt, sein Geist – lange das prägnante Aushängeschild seiner Person – scheint ausreichend geschwunden, um ihm eine bestimmte Art der Qual zu ersparen. Obwohl immer wieder, momentweise, etwas aus ihm aufsteigt, das nahelegt: Einiges erkennt er schon noch. Leider nicht immer richtig. Wenn ich ihn besuche, empfängt er mich meistens mit einem Vorwurf: „Du bist schon wieder so spät.“ Fast alles erscheint ihm zu spät oder falsch oder zumindest nicht richtig, denn das meiste von dem, was er tut, geht nun von anderen aus und nicht mehr von ihm.

Viel zusammen gelacht

Es mag merkwürdig klingen, aber wir haben noch viel zusammen gelacht in den vergangenen Jahren seiner Demenz. Trotz seiner Krankheit. Und manchmal sogar deswegen. Sehr lange war es mir möglich, ihn relativ zuverlässig aus dunklen Gedanken zu befreien – wenigstens zeitweise. Es hat mich viel Energie gekostet, manchmal mehr, als ich hatte, aber der Lohn seiner guten Laune schien es mehr als wert. Jetzt will mir das nur noch selten gelingen. Einerseits lähmende Stille, andererseits weiß ich, dass die Dinge nun nicht mehr an mir hängen. 

„Nur noch ein halber Held“

Vorbei die Zeiten, in denen er, wenn ich ihn anrief, sich standardmäßig mit „Hier spricht dein verwirrter Vater“ meldete. Als er verkündete, in seinem Kopf aufräumen zu wollen, Unebenheiten auf der Straße „Verbösungen“ taufte, und wenn man ihm ausrichtete, dass sich ein Freund nach ihm erkundigt habe, antwortete: „Ich selbst habe mich nicht nach mir erkundigt, ich weiß ja, wie es mir geht.“ Als er meine Freundin, in alten Machismo verfallend, „eine gute Rockwahl“ nannte und – immer noch um seine Wirkung bedacht – ausrichten ließ: „Entschuldige mich bitte für meine Inhaltslosigkeit, aber ich bin nur noch ein halber Held.“ Die Wörter haben sich von ihm – dem ehemaligen Rundfunkredakteur – abgewandt. Nur noch selten versuche ich ihn heute telefonisch zu erreichen, denn seit einigen Monaten geht er nicht mehr an den Apparat neben seinem Bett: zu komplex der Vorgang des Abhebens, und am Ende immer nur jemand, den man nicht sehen kann und außerdem kaum versteht. Ist meine Mutter bei ihm, kann sie uns verbinden, ihm den Hörer reichen und sagen: „Schau mal, der Andi ist am Telefon, freust du dich da nicht?“ – „Ja, freu mich“, sagt er dann artig, aber schon im nächsten Satz, dass er Schluss machen wolle. 

Die Ferndialoge sind mühsam und kurz. Immerhin, er erkennt mich. Besucht ihn meine Mutter, weiß er zunächst oft nicht, wer dort am Bettrand sitzt und ihm die Hand hält. Starrt sie lange fassungslos an, sagt: „Du bist doch mein liebes Kind, nicht wahr!“ Und weint, wenn er draufkommt, wer sie wirklich ist. Neulich hat sie ihn im Rollstuhl mitgenommen, weil im Fernsehraum des Pflegeheims ein Konzert mit Rossini-Arien gegeben wurde. Obwohl Der Barbier von Sevilla ihm in besseren Zeiten ein zuverlässiger Stimmungsaufheller war, hat er alsbald auf Abbruch gedrängt. „Ich verstehe nicht, was die da sagen. Warum lachst du denn?“ Zu schrill die Töne, und sein malträtiertes Gehirn überfordert, sie zu verarbeiten. Später würde er sagen: „Weißt du, Oper ist nicht mehr so meine Philosophie.“ 

Immer wieder aufgestanden

Er habe abgebaut, sagen die Schwestern. Fast alle Freunde überlebt, zurückgeblieben. Möchte nach Hause, aber weiß nicht, wo es ist. Ist in sich selbst nicht mehr zu Hause. Gedanken ohne Richtung, ohne Ziel. Ein Blatt im Wind, ausgeliefert, ohne Gestaltungskraft. Nur stiller, schweigsamer Ernst, der das Zimmer versiegelt. Und das Sehnen nach Ruhe. Obwohl er den Wunsch zu sterben hat und diesem Wunsch jetzt näher kommt, fürchtet er den Tod. Eigentlich will er nicht sterben, wer will das schon, er will nur nicht mehr dieses Leben. Wenn er es vom Ende her betrachtet, und das bietet sich in seinem Fall an, könnte er im Großen und Ganzen zufrieden sein. Behütet über weite Strecken, ab und zu ins Schlingern geraten, aber immer wieder aufgestanden. Sicher, er würde die letzten Jahre gern streichen, aber die genaue Menüfolge des Lebens liegt nicht mehr in seiner Hand. Nicht einmal eine einzige Stunde des Weges, auf dem er sich jetzt täglich verläuft. 

Validation

Oft wird er schnell ungeduldig, wenn man ihn nicht versteht. Manchmal auch laut. Neulich hat er sich beklagt, dass ich ihm „immer nur kahle Hemden“ bringen würde. Dabei brauche er doch „runde“ Hemden: „RUNDE, verstehst du!“ Nächstes Mal bekommst du wieder runde, haben wir ihm versprochen. Obwohl wir nicht wussten, was er damit meint. Aber schließlich geht es in erster Linie um seine Beruhigung. Das ist es, was die Fachleute als „Validation“ bezeichnen: das Anerkennen der Gedanken- und Gefühlswelt eines an Demenz Erkrankten. Nicht verbessern, wenn er einen Toten im Zimmer wähnt, Zeiten oder Personen durcheinanderschmeißt (die mit der Zufälligkeit eines Würfelbechers erscheinen). Das hat uns über die Jahre getragen, war eine letzte Sicherheit in einer Kommunikation, die, wenn sie funktionieren soll, nicht mehr allgemeinen, sondern ausschließlich den Regeln des Kranken zu folgen hat. 

Jetzt merke ich, dass diese Regeln – so beherzigenswert sie sind – ihre Bedeutung verlieren. Weil es längst nicht mehr um das Wie unserer Kommunikation geht, sondern nur noch um ein Ob. Durch den stufenweisen Abschied meines Vaters bin ich mit meiner eigenen Endlichkeit konfrontiert. Zum ersten Mal seit vielen Jahren habe ich wieder Philosophen gelesen, hilfesuchend, in der Hoffnung, sie mögen etwas Ruhe und Klarheit bringen in jenes dunkle Feld, das man ja oft mit Nichtachtung straft. Obwohl doch feststeht, dass das Ziel jeder Laufbahn der Tod ist. Und man ein ganzes Leben Zeit hat, sich darauf vorzubereiten. Montaigne etwa bietet zur Tröstung an, dass Alter und Krankheit uns ans Sterben gewöhnen. „Der Tod ist weniger zu fürchten als Nichts, wenn es etwas Geringeres als Nichts gäbe. Er betrifft euch weder tot noch lebend: Lebend nicht, weil ihr seid; tot nicht, weil ihr nicht mehr seid (…). Ihr sterbt schon, während ihr noch lebt. Denn ihr habt den Tod hinter euch, wenn ihr nicht mehr am Leben seid.“ 

Alles ist gesagt, alles getan

Ich bin sehr dankbar, dass wir, als es noch ging, über alles gesprochen haben. Es gibt eigentlich nichts, was in unserem Verhältnis noch der Klärung bedürfte. Alles ist gesagt, alles getan. Keine Vorwürfe, nur längst Verziehenes. Ich danke ihm für alles, was er mir beigebracht hat. Die Liebe zur Musik, der Literatur und dem Schreiben. Die Selbstironie. Und die Erkenntnis, dass sich die meisten Dinge von selbst regeln. Natürlich gäbe es auch ein paar Eigenschaften, für die ich ihm weniger dankbar bin, aber, so ist das wohl im Leben, man bekommt immer das ganze Programm. 

Rückzugsgefecht der Erinnerungen

Immerhin weiß ich jetzt besser, wo es herkommt. Bei der Beschäftigung mit seiner Demenz bin ich auf eine Jugendbiografie gestoßen, die er vor Jahren einmal begonnen hatte. Ich hatte nie ganz verstanden, wie sich ein Mann mit Mitte 70 so intensiv mit seinen frühesten Erinnerungen beschäftigte. Aber dann war mir klar geworden, dass er genau damit das Terrain absteckte, das ihm am längsten bleiben würde. Die Demenz ist ein Rückzugsgefecht der Erinnerungen. Die Zukunft eines Menschen mit Demenz ist seine Vergangenheit. Mein Vater hat das sehr fortgeschrittene Manuskript nie beendet. Offenbar, weil es ihm schwerer gefallen war als erhofft. So wie er Zeit seines Lebens unangenehme oder beschwerliche Dinge lieber beiseiteschob oder anderen überließ, als sich ihnen zu stellen (worin ich durchaus gewisse Parallelen zu mir entdecke). 

Illusion eines Gesprächs

Neulich habe ich ihm allerlei einfache Fragen gestellt. Weil ich die Illusion eines Gesprächs haben wollte. Er hat etwa 20 Minuten lang auf alles mit „Ja“ geantwortet, wobei er das Wort freilich immer etwas anders betonte. Als ich mich anschickte zu gehen, sagte er völlig überraschend: „Es war sehr schön, mal wieder mit dir zu sprechen.“ Ein ganz normaler Satz. Meistens, wenn ich bei ihm sitze, schläft er jedoch. Darum habe ich viel Zeit, die Bilder zu betrachten, die wir ihm an die Wand gehängt haben: Stiche seiner Heimatstadt Dresden, von denen wir uns erhofften, sie mögen seinen wenigen verbliebenen Erinnerungen einen Anker geben. Ein paar freundliche Tierbilder. Ein Foto, auf dem er meine Mutter küsst und das ihn, obwohl er durch ein angedeutetes Lächeln zu verstehen gab, dass er das Bild mag, vielleicht ängstigt – einfach, weil es ihm möglicherweise nicht hell genug ist. Ob ich es wieder abnehmen soll? 

Zwischenwelt

Mein Tag verbraucht sich in diesem Zimmer, ich komme vom anderen Ende der Stadt, und mein Vater will nicht mit mir sprechen. Es kann sein, dass ich in einem solchen Moment denke, er kann doch immer schlafen, warum gerade jetzt? Aber ich weiß, dass der Gedanke falsch ist. Natürlich wecke ich ihn nicht aus seiner Zwischenwelt. Ich schaue also in das väterliche Gesicht, das so friedvoll auf seinem Kissen ruht. Erwacht er, kann es sein, dass er verschreckt aufschaut und sagt: „Geh weg.“ 

Also lasse ich ihn ruhen. 

 

 

Andreas Wenderoth hat über den stufenweisen Abschied seines Vaters ein Buch geschrieben: Ein halber Held – Mein Vater und das Vergessen (Blessing Verlag). Unvergessen sind aber auch die vielen heiteren Momente mit seinem Vater, einige davon beschrieb Wenderoth 2010 im SZ-Magazin: sz.de/magazin/wenderoth

 

Mit freundlicher Genehmigung von Andreas Wenderoth und der Süddeutschen Zeitung, in der dieser Beitrag unter demselben Titel am 17.3.2017 im SZ Magazin erschienen ist.