Layenda Franco sitzt am Boden und hält in einer Yogastellung das rechte Bein hochgezogen hinter der rechten Schulter. – Foto: Lea Frei

Der 60-jährige Layenda Franco bringt sich trotz seiner Behinderung problemlos in schwierige Yogapositionen

Foto: Lea Frei
aus Heft 2/2017 – Lebensgeschichten
Lea Frei

Bewegung ist Leben

Als Kind erkrankte der heute 60-jährige Loyenda Franco an Polio. Er lebte als obdachloser Flüchtling in Portugal und reiste trotz – oder gerade wegen seiner Behinderung – um die Welt. Gründe, den Kopf in den Sand zu stecken, hatte er viele. Auch wenn ihn seine Beine nicht zu tragen vermögen, schaffte er es stets, weiterzugehen und das Positive im Leben zu sehen.

„Ich wollte der Welt schon immer zeigen, dass es nicht notwendig ist, sehr reich zu sein oder einen perfekten physischen Körper zu haben, um Dinge im Leben zu tun, die uns und andere Menschen glücklich machen“, erzählt Loyenda, als ich ihn an seinem aktuellen Wohnort in Thailand, 15 Kilometer nordöstlich von Chiang Rai, besuche. Weil er sich vor einigen Jahren sein Knie bei einem Unfall verletzte, legte er seine Krücken beiseite und nutzt nun den Rollstuhl – und es ist erstaunlich, wie sich der ältere Herr mit einer Leichtigkeit durch reine Muskelkraft aus seinem Rollstuhl schwingt, sich an Baugerüsten hochhangelt und Bäume wie ein Affe beklettert.

Einschnitt in ein Kinderleben

Geboren in Angola, wuchs Loyenda in einer Großfamilie mit zehn Geschwistern auf. Der Vater, ein gebürtiger Portugiese, war selten zuhause. Die Mutter, eine liebenswürdige Angolin, kümmerte sich aber gut um die Kinder. Als fünftes Kind war Loyenda der erste Sohn der Familie. Der Vater setzte große Hoffnung in ihn: Der Junge sollte studieren, Arzt werden oder sonst eine wichtige Position einnehmen. Dem Vater selber war solches nicht möglich gewesen.

Loyenda war ein aktives Kind, mit viel Energie. Doch im Alter von zwei Jahren und zehn Monaten änderte sich sein Leben abrupt. Er erkrankte an Polio. Plötzlich stieg seine Körpertemperatur zu hohem Fieber an und er konnte sich nicht mehr aus dem Bett erheben. Am dritten Tag, als noch keine Besserung abzusehen war, machte sich der Vater mit dem kranken Kind auf und reiste mit dem Zug in die 800 Kilometer entfernte Hauptstadt Luanda, um einen Arzt aufzusuchen. Die Symptome des Kindes waren für die Spezialisten ein Rätsel. Sie wussten nicht, um welche Krankheit es sich handelte. Sie starteten eine Behandlung mit einem Antibiotika-Cocktail. Diese schlug nicht an. Erst allmählich klangen die Symptome aber dennoch ab. Auf seinen eigenen Beinchen laufen konnte das Kind aber nicht mehr. Einige Jahre später war noch immer unklar, was die Ursache für die Lähmung war. Mit großer Hoffnung brachte der Vater den nun fünfjährigen Jungen nach Portugal, wo in einem Krankenhaus mit tiefen Schnitten die Muskeln bearbeitet wurden. Ob der Ziellosigkeit der Behandlung war der ausbleibende Erfolg nicht verwunderlich.

Ein schwarzes Schaf? Ein Rebell?

Als Loyenda das Schulalter erreichte, fuhr die Mutter ihn in einem Kinderwagen zur 300 Meter entfernten Schule. Freunde hatte er dort nur wenige. Er wurde zwar für seinen Durchsetzungswillen bewundert, dennoch wurde er häufig gehänselt. Doch mit zwei oder drei Jungs verstand er sich gut und einer davon war sein wahrer Freund, der ihm ständig zur Seite stand. Huckepack stellten die beiden Unfug an, verließen das Klassenzimmer unter dem Vorwand, zur Toilette zu gehen und tollten stattdessen über den Schulhof. Im Alter von zwölf Jahren lernte Loyenda endlich laufen. Er konnte sich mit Krücken fortbewegen. Von da an ging vieles einfacher. Doch die hohen Erwartungen seines Vaters konnte oder wollte er trotzdem nicht erfüllen. „Ich war ein Außenseiter, vielleicht auch ein schwarzes Schaf. Auf jeden Fall konnte ich mich nie in einem System anpassen, welches nichts mit dem zu tun hat, wofür ich geboren wurde“, so beschreibt er es. Loyenda kassierte Schläge von seinem Vater, „weil ich ein Rebell war oder vielleicht, weil meine Beine nicht gut sind“. Die Gründe spielen für ihn heute keine Rolle mehr. Dem Vater hat er verziehen. Mit 16 Jahren verließ er die Schule und sein Zuhause und reiste kreuz und quer durch Angola. Rückblickend sagt er über seinen frühen Ausriss: „Es war das Beste, was ich in meinem Leben getan habe. Weil ich mich dadurch entschieden habe, so zu sein, wie ich bin.“

Ein Lebenskünstler auf der Flucht

Der Bürgerkrieg in Angola dauerte an. Das Leben in den Straßen war hart. Dank seiner Behinderung musste Loyenda nicht in die Armee und er erhielt die Erlaubnis der Regierung, das Land zu verlassen. So gelangte er als Flüchtling nach Portugal, wo er neun Jahre lebte. Als Obdachloser schlief er in Zügen, Bussen und Bahnhöfen. „Es war keine einfache Zeit“, sagt er rückblickend. Seine Erinnerungen sind trotzdem gut. Er hatte keine Mietkosten zu bezahlen, keine Steuern zu begleichen und fühlte sich frei. Er musste sich bloß darum kümmern, etwas Festes zwischen die Zähne zu bekommen. Gebettelt hatte er nie, dafür war er zu stolz. Stattdessen plauderte er mit den Marktfrauen, die ihn mit Essen versorgten. Immer wieder traf er auf Menschen, die mit ihm ein Stück auf seinem Weg gingen und ihm halfen. Er schloss sich einer Gruppe obdachloser Afrikaner an und sie besetzten gemeinsam ein Haus. Dann begegnete er einer Deutschen, die ihm Werkzeuge besorgte, damit er Möbel zimmern konnte. Das Schreinern brachte er sich wie so manches in seinem Leben selber bei. „Es ist komisch“, sagt Loyenda: „Die meisten Leute müssen drei Viertel ihres Lebens studieren, um in einem Viertel ihres Lebens zu tun, was sie gelernt haben.“ Sein Leben gestaltet er anders.

Als er dank seiner Handwerksarbeiten genug gespart hatte, war für Loyenda der Moment gekommen, Portugal zu verlassen. Nur mit Jeans und Sommerschuhen und einer selbstgemachten Tasche gefüllt mit Habseligkeiten kam er im Dezember am Bahnhof in Amsterdam an und stapfte mit seinen Krücken durch den Schnee. Er ging in eine unbekannte Stadt, die wie mit Schlagsahne übergossen in winterlichem Ambiente vor ihm lag. Ein neues Abenteuer wartete auf ihn. Die Erinnerung daran bringt Loyenda auch heute noch zum Lachen: „Das war Spaß. Das war richtig spaßig.“

Unterwegs rund um die Welt

Loyenda lebte 30 Jahre in Holland. „Ich habe hart gearbeitet, ständig neue Projekte gestartet“, erzählt er von dieser Zeit. Er zimmerte Möbel, half einem neugewonnenen Freund bei Schreinerarbeiten aus, spielte Musik in Bands, unterrichtete Yoga, zeigte Menschen mit und ohne Behinderung, wie man Schmuck oder andere Kunstwerke kreiert, ging mit einer Theatergruppe auf Tournee und baute mit einer Gruppe von Ex-Junkys Rollstühle. Er heiratete eine Holländerin, ließ sich nach einigen Jahren scheiden und verliebte und entliebte sich erneut. Loyenda arbeitete ein paar Monate, um Geld zu verdienen und machte sich dann startklar für die nächste Reise. 

Mit Krücken und später im Rollstuhl war er in vielen Ländern alleine unterwegs. Auch in Ländern wie Indien oder Nepal, die kaum auf die Situation von Menschen mit einer Behinderung ausgerichtet sind, ließ er sich nicht behindern. Benachteiligt fühlte er sich nie. Loyenda glaubt daran, dass Menschen das Leben wählen, welches sie antreten wollen. Dies hat für ihn einen tieferen Sinn. „Wäre ich nicht an Polio erkrankt, wäre ich vielleicht im Krieg umgekommen“, gibt er zu bedenken. Wichtig im Leben sei, sich so zu akzeptieren, wie man ist. Auch wenn man nicht perfekt ist. „Egal, ob jemand einen Finger weniger hat oder ihm die Nasenspitze fehlt: Wir können etwas tun. Manche Menschen haben zwei gute Beine und zwei gute Arme, einen sehr kräftigen Körper, aber sie machen trotzdem nichts.“ Loyenda ist im Rollstuhl und bringt anderen bei, wie sie ihr Leben meistern können. Er lacht. Immer wieder trifft er auf Leute, die sagen: „Hey – er ist im Rollstuhl und kann das. Warum machen wir das nicht auch?“ Loyenda freut sich über den guten Einfluss, den er auf andere Menschen hat, „nur“ weil er im Rollstuhl sitzt.

Tun, was Leben bringt

Der 60-Jährige sitzt mit einer Spachtel in der Hand auf dem Boden des Grundstücks, welches er liebevoll „Coconutland“ nennt. Er baut drei Bungalows. Einen für sich und die anderen beiden für eine thailändische Familie, mit der er sich gut versteht. Sein Rollstuhl steht neben ihm. Er bepflastert die Wände eines neu erbauten Badezimmers mit Mosaik – ein weiteres kleines Kunstwerk in seinem Leben.

Er hat die portugiesische und holländische Staatsbürgerschaft. Letztere verhilft ihm zu einer Invalidenrente und erleichtert ihm sein Leben. Langweilig ist ihm nie. Er fertigt Kunsthandwerke an, unterrichtet Rohkost-Kochkurse, zeigt Kindern in Waisenhäusern, wie man Mandalas gestaltet und bringt jungen Menschen aus dem Dorf die englische Sprache bei. Nicht des Geldes wegen, dieses nimmt er für die meisten seiner Tätigkeiten gar nicht an. Sondern weil er überzeugt ist von der Wichtigkeit dessen, was er tut.

Trotz allen Optimismus denkt Loyenda manchmal darüber nach, wie es wäre, zwei gesunde Beine zu haben. „Ich kann mit meinem Rollstuhl in den Garten fahren und diesen bepflanzen. Wären meine beiden Beine gesund, hätte ich nicht nur einen Garten, sondern viele Gärten.“ Kommen solche Gedanken auf, fragt sich Loyenda: „Warum will ich mehr?“ Der 60-jährige Mann, der sich trotz seiner Behinderung problemlos in komplizierteste Yogapositionen bringt, ist zufrieden mit dem, was er hat. Er tut das, was ihm und anderen guttut, lebt ganz nach dem Motto: „Tu, was dir Leben bringt. Vergiss den Rest. Das Leben ist zu kurz.“

 

Lea Frei, MAS Kulturmanagement Praxis, arbeitet als freie Journalistin in den Bereichen Kultur, Gesundheit und Soziales und ist für Ageing Nepal tätig, eine Organisation, die sich für die Anliegen älterer Menschen in Nepal einsetzt.

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