Selfie einer Mutter mit ihrer 13 jährigen behinderten Tochter

Sonderschule ja oder nein? Ein Diskurs

aus Heft 4/5/2016 – Diskurs
Peter Rudlof

Sonderschule ja oder nein?

Laut Bildungsministerium soll es ab 2020 in Österreich keine Sonderschulen mehr geben. Als Wegbereiter dafür werden in der Steiermark, in Tirol und Vorarlberg inklusive Modellregionen eingerichtet. Dagegen wehrt sich eine Elterninitiative in der Steiermark und hat eine bundesweite Bürgerinitiative (www.elternbrief.at) gestartet. Sie hat Angst um das Wohl ihrer behinderten Kinder und sieht sich in ihrer Wahlfreiheit beschränkt – ein Diskurs via E-Mail.

Welche Ängste haben Sie als Mutter einer behinderten Tochter?

Alexandra Eibler (Mutter): Meiner Meinung nach ist die Abschaffung der Sonderschule der völlig falsche Weg, Inklusion zu fördern, ganz im Gegenteil, ich befürchte, dass eine Integration „auf Biegen und Brechen“ erst recht zur Ausgrenzung von Kindern mit Behinderung führt. Ich nehme hier als Beispiel meine eigene Tochter, sie ist auf Grund ihrer Epilepsie-Erkrankung mit ihren 13 Jahren geistig und motorisch am Stand eines ungefähr acht Monate alten Kindes. Ein Kind wie sie in eine Integrationsklasse zu setzen, wo sie mit Freude Schubladen ausräumen, Bücher zerfetzen, Sessel umwerfen oder Schultaschen von MitschülerInnen mit dem Mund erforschen würde und sich am liebsten mit allem, was Lärm macht, beschäftigt, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Was wäre die Folge eines solchen Kindes in der Klasse? Die Betreuungsperson (so denn eine vorhanden wäre) müsste mit ihr die Klasse verlassen, denn auf Dauer stört das Verhalten meiner Tochter, so ehrlich müssen wir alle, die über dieses Thema diskutieren, sein. Meine Tochter ist ein Sondenkind. Ich bin mir nicht sicher, ob jede Mitschülerin und jeder Mitschüler dieses Thema gut verkraftet.

Barbara Gasteiger-Klicpera (Universität Graz): Ich möchte deutlich machen, dass ich die Sorgen von Eltern gut verstehen kann, die denken, für ihr Kind wäre die Betreuung in einer Sonderschule der einzig gangbare Weg. Das Problem ist, dass viele Eltern den Eindruck haben, wir diskutieren derzeit über die Luxusvariante Sonderschule versus die Sparvariante Inklusion. In der Luxusvariante Sonderschule bekämen Kinder qualifizierte Unterstützung in kleinen Klassen, speziell ausgebildete Sonderpädagogen, eigens adaptierte Räume, manchmal sogar Gebäude, etc. In der Inklusion hingegen wären nicht einmal die grundlegenden Aspekte gewährleistet, nämlich Ganztagsbetreuung und die notwendige medizinische Versorgung, die viele SchülerInnen benötigen. Ich verstehe die Eltern wirklich, die dies so sehen. Wer würde lieber in einer Jugendherberge wohnen als in einem Luxushotel? Allerdings weiß ich auch, dass dies eine sehr bedauerliche Entwicklung ist.

Ilse Schmid (Elternvertretung): Die Ängste der Betroffenen sind sehr real und vielfach belegt. Es steht häufig zu wenig speziell ausgebildetes Personal zur Verfügung, ebenso fehlen die therapeutischen Möglichkeiten etc. „Extras“ wie Schulveranstaltungen, etc. sind nicht abgedeckt – Eltern müssen einspringen oder Kinder können nicht mit. Die Tatsache, dass in der Eigenbeschreibung des Ministeriums steht: „Das Konzept der Inklusion steht für eine optimierte und qualitativ erweiterte Integration: alle SchülerInnen, ob mit oder ohne SPF, deutschsprachig oder anderssprachig, männlich oder weiblich usw. sollen in ihrer Individualität als förderbedürftig gesehen werden“, weist darauf hin, dass den Kindern mit Behinderungen die ihnen zustehenden besonderen Ressourcen entzogen und verteilt werden sollen.

Was spricht für Sie als Schulpsychologe gegen Sonderschulen?

Josef Zollneritsch (Landesschulrat Steiermark): Sonderschulen widersprechen einem inklusiven Verständnis von Pädagogik und blockieren die selbstverständliche Teilhabe von behinderten Menschen am normalen Leben. Sonderschulen sind weder begrifflich noch organisatorisch zeitgemäß. Aus Sicht der Schulverwaltung verursachen Doppelstrukturen sinnlose Mehrkosten. Persönlich trete ich für ein Maximum an Flexibilität für SchulleiterInnen ein, sodass jederzeit auch eigene Gruppen für behinderte SchülerInnen gebildet werden könnten.

Eibler: Diese eigenen Gruppen für behinderte SchülerInnen gibt es ja schon, in Form von Sonderschulklassen. Dann benennen wir diese doch bitte einfach um in „Inklusive familiär geführte Klasse für Kinder mit speziellen Bedürfnissen“!

Wie kann die Pädagogik bzw. Politik Ängsten und Befürchtungen von Eltern-, aber auch von LehrerInnenseite begegnen?

Gasteiger-Klicpera: Es wird SchülerInnen geben, für die die Großgruppe einer Klasse von 25 Kindern auf Dauer nicht erträglich ist. Diese Schülerinnen und Schüler sind aber eine große Ausnahme, und für sie müssen flexible Formen der schulischen Bildung gefunden werden, die ihnen Rückzugsmöglichkeiten eröffnen, wo sie aber auch gleichzeitig zumindest zeitweise in einer Klasse mit anderen Schülerinnen und Schülern zusammen lernen können. Kleinklassen oder Ressource Rooms sind so ein Modell, das sich bewährt hat. Die Aufgabe für das Bildungssystem – und da meine ich einfach alle und nehme mich selbst dazu – besteht derzeit darin, deutlich zu machen, dass nicht die Sonderschule, sondern Inklusion die Luxusvariante für SchülerInnen mit Behinderung ist und dass wir an der Umsetzung dieser Luxusvariante arbeiten müssen. Dafür braucht es ausgezeichnet ausgebildete inklusive Pädagoginnen und Pädagogen mit exzellentem Fachwissen, ein adäquat ausgestattetes multiprofessionelles Unterstützungssystem und eine mutige Schulverwaltung, die den Schulen die Ressourcen anvertraut, damit diese die Inklusion umsetzen können, ohne durch Vorgaben zu sehr eingeschränkt zu sein.

Eibler: Dass dies in Zeiten von Sparpaketen und Kürzungen sowohl im Behinderten- als auch im Schulbereich Wunschdenken bleibt, sollte allen Beteiligten wohl mehr als klar sein. Man denke an die kürzlich erfolgten Stundenkürzungen im ASO (Allgemeine Sonderschule)- und Integrationsbereich. Lehrer sind jetzt schon mit Kindern überlastet, für die Integration toll ist und Sinn macht, weil sie alleingelassen werden. Zusatzlehrer und Hilfspersonal werden gestrichen, weil nicht im Budget. Am Ende des Tages gibt es einen Verlierer: die Kinder. Egal ob behindert oder nicht.

Gasteiger-Klicpera: Wir wissen, dass Schülerinnen und Schüler in Sonderschulen auf lange Sicht in vielerlei Weise benachteiligt sind; sie haben geringere berufliche Möglichkeiten, haben weniger Chancen im Leben, geringere soziale Kompetenzen und ihre kognitive Entwicklung verläuft langsamer. Der Grund liegt im Wesentlichen darin, dass Schüler in einer Klasse nicht nur vom Lehrer oder der Lehrerin lernen, sondern genauso von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern. Dies gilt für kognitive Aspekte ebenso wie für soziale Aspekte. Wir haben gerade in der Steiermark so viele hervorragende Beispiele dieser Luxusvariante Inklusion, von der alle Beteiligten, Lehrpersonen, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderung profitieren.

Zollneritsch: Es gibt viele Good-practice-Beispiele von inklusiven Schulklassen, diese wären sichtbar zu machen. Wesentlich sind die Einstellung und Haltung, das Know-how und die größtmögliche Flexibilität von Schulen, auf besondere und sonderpädagogische Bedürfnisse einzugehen. Wir werden auch weiterhin Spezialisten brauchen, die geschult sind im Hinblick auf spezielle Behinderungsarten.

Welche Zukunftsbilder von Schule in Zusammenhang mit Behinderung haben Sie?

Zollneritsch: Die Schule von Morgen muss eine inklusive Schule sein. Sonderschulen soll es keine mehr geben; sehr wohl muss es aber innerhalb JEDER Schulart möglich sein, auf Bedürfnisse von SchülerInnen mit Behinderungen (flexibel) einzugehen. Dafür soll jeder Standort entsprechende Ressourcen erhalten.

Eibler: Für mich stellt sich wirklich die Frage: Warum Strukturen schaffen, wenn Vorhandenes gut funktioniert? Dass es nach wie vor Sonderklassen gibt, zeigt doch, dass Bedarf gegeben ist. Kein Elternteil würde ein Kind, von dem er der Meinung ist, dass es integriert werden soll und kann, in eine Sonderklasse geben. Aber es gibt einfach Kinder, Kinder wie meine Tochter, die kann und soll man nicht integrieren, hier funktioniert die Integration in kleinen Klassen mit Kindern mit ähnlichen Bedürfnissen, auf die dann auch wirklich eingegangen werden kann, doch am allerbesten.

Schmid: Schule muss so konzipiert sein, dass die reelle Chance besteht, Kindern mit unterschiedlichsten Bedürfnissen gerecht zu werden. Gelebte Inklusion kann nicht gelingen, wenn eine permanente Überforderung der Beteiligten wegen ungeeigneter Rahmenbedingungen passiert. In allen Lebensbereichen gibt es Spezialisten für besondere Herausforderungen. Ein Schulcampus, auf dem eine für Kinder mit Behinderungen speziell ausgestattete, ressourcenmäßig gut dotierte „besondere Förderschuleinheit“ eingerichtet ist, könnte gelebte Inklusion und notwendigen Schonraum bieten und zu einer echten Wahlfreiheit führen. Denn Wahlfreiheit muss in beide Richtungen gewährleistet sein: hin zum vollen gemeinsamen Unterricht oder eben hin zur „besonderen Schule“. Dies setzt voraus, dass dort wie da jene Voraussetzungen herrschen, die für gelingende Bildung unabdingbar sind.

Zusammenfassung: Peter Rudlof