Bildausschnitt aus einem farbenfrohen Gemälde von Andreas Krötzl

Ein Mathematikunterricht für alle! 10 Bausteine für einen inklusiven Mathematikunterricht

aus Heft 4/5/2016 – Fachthema
Klaus Rödler

Ein Mathematikunterricht für alle! – 10 Bausteine für einen inklusiven Mathematikunterricht in der Grundschule

Ein Mathematikunterricht für alle! Unter diesem Titel habe ich 2014 einen Aufsatz veröffentlicht, in dem ich die allgemeindidaktischen Konsequenzen und die Grundlagen für ein fachdidaktisches Umdenken für den Mathematikunterricht dargestellt habe (Klaus Rödler, 2014). 2016 habe ich einen Ratgeber mit Materialbänden veröffentlicht, der darstellt, wie der Unterricht in den ersten beiden Schuljahren auf Grundlage dieser Überlegungen praktisch gestaltet werden kann (Klaus Rödler, 2016 a-f). Hier möchte ich einige zentrale Bausteine dieses neuartigen Konzepts benennen und kurz erläutern. Sie erlauben, dass der Mathematikunterricht sich von einem Nebeneinander differenzierter Parallellehrgänge zu einem inklusiven, das heißt gemeinsamen Unterricht wandeln kann.

Baustein 1: Einstieg mit konkreten Zahlen auf der Stufe analoge Abbildung

Der wichtigste Baustein ist, sich von der Vorstellung zu befreien, dass am Anfang des Lehrgangs die Zahlreihe steht. Die Zahlreihe kann schon deshalb nicht am Anfang stehen, weil sie all jene Kinder vom gemeinsamen Einstieg ausgrenzt, die Schwierigkeiten haben, auch nur die Zahlwortreihe aufzubauen. Wichtiger noch als dieses Argument ist jedoch, dass dieser Einstieg dazu verführt, Zahlworte und Zahlzeichen mit den Zahlen selbst zu identifizieren. Die Zahl selbst (als Abbildung einer kardinalen Wirklichkeit) und deren Repräsentation als Wort oder Zeichen sind jedoch strikt zu trennen. Nur dann ist es möglich, die Tatsache zu nutzen, dass Zahlen auf unterschiedlichem Abstraktionsniveau gefunden und dargestellt werden können (Rödler 2006a, 2016a), was mit einem unterschiedlichen Abstraktionsniveau auf der Ebene der ikonischen Darstellung und auch des abstrakten Zahlzeichens korrespondiert. Nur bei dieser Aufmerksamkeit ist es möglich, festzustellen, auf welcher Stufe sich das innere Zahlkonzept des Kindes befindet und mit welchen Rechenmitteln und Notationsformen es daher verständig rechnet. Nur bei verständig durchgeführten Rechenhandlungen kann sich das innere Zahlkonzept des Kindes verändern und weiter entwickeln (Abb. 1).

Am Anfang des Lehrganges steht also nicht unsere abstrakte Zahlwortreihe, deren Grundlagen und Struktur es erst allmählich zu verstehen gilt. Am Anfang steht die Arbeit mit konkreten Zahlen auf der Abstraktionsstufe „analoge Abbildung“ (Einzelelemente). Dabei ist es das erste Ziel, die Zahlworte Eins, Zwei, Drei und Vier als Namen für wahrnehmbar unterschiedliche „Zahlbausteine“ kennenzulernen. Die Kinder sollen lernen, den Blick auf Quantitäten, also auf den Aspekt von mehr und weniger zu richten. Dieser Zugang, der zunächst an der protoquantitativen Wahrnehmung (Gerster/Schultz 2004, S. 77) ansetzt, erlaubt es, alle Kinder mit ins Boot zu holen. Zahlwissen wird hier nicht vorausgesetzt. Gleichzeitig entsteht ein erstes Zahlwissen im spontan wahrnehmbaren Bereich bis 4, in dem Anzahlen ohne Abzählen als unterschiedlich erfasst werden können, was es plausibel macht, diesen unterschiedlichen Quantitäten Namen zu geben. Dieses erste Erarbeiten von kardialen Zahlbausteinen geschieht in der parallelen Arbeit mit Zählprojekten mit Gebäuden und beim Rechnen. Dabei spielt der Einstieg über Multiplikation und Division eine zentrale Rolle (2014, 2016a, S. 101ff., 2016b).

Baustein 2: Multiplikation und Division als Einstieg ins Rechnen

Der Einstieg über die Addition erfordert wegen der unterschiedlichen Vorkenntnisse in der Zahlwortreihe zwangsläufig eine Differenzierung im Unterricht. Will man einen gemeinsamen Einstieg, so muss man mit etwas beginnen, das allen Kindern gleichermaßen unbekannt ist. Komplexität ist dabei eher von Vorteil als von Nachteil, da Komplexität es erlaubt, dass auf unterschiedlichen Ebenen zugegriffen werden kann (2014). Komplexität ermöglicht Selbstdifferenzierung (2016a, S. 20). Gleichzeitig sind Multiplikation und Division besonders gut geeignet, bei den Rechenhandlungen Zahlbausteine und operative Zusammenhänge in den Blick zu bringen (2016 a, S. 74). Auf Abb. 2 sieht man deutlich, wie die Aufgabe 3 · 4 = dazu führt, dass die „4“ dreimal gelegt werden muss und sich daher als Gesamteindruck festigt. Gleichzeitig zeigt die Endstellung der Division 12 : 3 = das gleiche Bild und ermöglicht damit eine erste Erfahrung in die Bedeutung operativer Zusammenhänge (12 : 3 = 4 und 12 : 3 = 4, weil 3 · 4 = 4 · 3 = 12).

Baustein 3: Subtraktion vor Addition

Während die Endstellung der Addition eine unüberschaubare Reihe bildet, die eine abzählende Ermittlung der Lösung erzwingt, zeigt die Endstellung der Subtraktion den Minuenden zerlegt nach Subtrahend und Ergebnis. Das erlaubt häufig die protoquantitative Wahrnehmung der Lösung und ermutigt, bekannte Zahlbausteine zu nutzen und zu festigen.

Gleichzeitig wird der operative Zusammenhang von Addition und Subtraktion (6 – 2 = 4, 6 – 4 = 2, 4 + 2 = 6, 2 + 4 = 6) deutlich, der es erlaubt, sich frühzeitig vom zählenden Rechnen zu lösen und Aufgaben kompetent auf Basis des „Teile-Ganzes-Prinzip“ (Gerster/Schultz 2004, S. 77) zu lösen. Wie schon bei der Multiplikation erfahren die Kinder bei der Subtraktion, dass kompetentes Rechnen etwas anderes ist als Zahlwortreihen aufsagen. Eine Erfahrung, die im Zusammenhang mit Baustein 6 auch auf die Addition übersetzt werden kann.

Baustein 4: Subtraktion mit Bündelungsobjekten zum Aufbau des Konzepts reversibler Wertebenen

Auch wenn es darum geht, das Verständnis für den Zehnerübergang als Grundlage für ein auf reversiblen Wertebenen beruhendes Zahlkonzept vorzubereiten, hat die Subtraktion deutliche Vorteile. Zumindest dann, wenn man nicht mit Einzelelementen (Stufe: analoge Abbildung) sondern mit 5er- und 10er-Stangen (Stufe: konkrete Bündelung) arbeitet. Abb. 4. zeigt deutlich, dass der auf Einzelelementen beruhende gefärbte Fünferrahmen zwar die 5 als Grenze zeigt, das Rechnen in Schritten aber nicht erzwingt. Ganz anders sieht es aus, wenn ein Bündelungsobjekt eine deutliche Grenze zieht.

Lässt man die Kinder mit konkreten Fünfern rechnen, so zeigt die Aufgabe 7 – 3 = den Vorteil des veränderten Abstraktionsniveaus. Anders als der gefärbte 20er-Rahmen zwingt die Fünferstange das Kind, in den zwei Schritten „Zwei weg, noch einer.“ zu denken. Eine rein abzählende Lösung („1, 2, 3 weg. 1, 2, 3, 4 da.“) ist bei diesem Rechenmittel nicht möglich. Gleichzeitig sorgt die Anforderung, die 5er-Stange nicht aufzulösen, sondern nur virtuell zu entbündeln (2016a, S. 79), dass die bekannten Zahlbausteine bis 4 genutzt werden.

 

Auf der Ebene des Zehnerübergangs wiederholt sich diese an der Fünferstange kennengelernte Rechenhandlung, die bei gefestigtem Zerlegungswissen dadurch produktiv verändert werden kann, dass man das Abstraktionsniveau durch die Verwendung von Geldmünzen auf die Stufe „symbolische Bündelung“ anhebt (Abb. 5a/b). Der Vergleich zwischen den beiden Rechenhandlungen macht deutlich, dass die Verwendung von Geldmünzen die Zerlegung des Zehners visuell nicht mehr unterstützt.

Baustein 5: Hinausschieben des Zehnerübergangs

Wenn es darum geht, die Rechenprobleme von noch an der Zahlwortreihe orientierten Kindern zu verstehen, so ist es ganz allgemein eine gute Hilfe, sich die Aufgabe mit Buchstabenzahlen aufzuschreiben (ausführlich in 2016a, S. 65ff., S. 76ff.). Dabei ersetzen Sie die uns allen vertraute Zahlreihe 1, 2, 3, 4 … einfach durch die Buchstaben des Alphabets: A, B, C, D, … Dann haben Sie eine Zahlwortreihe, mit der Sie wie ein Rechenanfänger zählend rechnen müssen, weil Ihnen diese Zahlen noch nicht als kardinale Bausteine vertraut sind. (Rechnen Sie einmal H – D =, ohne die Buchstaben in die Ihnen vertraute Zahlreihe zurückzuübersetzen. Nehmen Sie einfach Ihre Finger!)

Wenn Sie diese Buchstabenzahlen auf das Problem einer Addition mit Übergang anwenden, so sehen zwei oft verwendete Notationen der Rechnung 6 + 8 = 14 so aus:

 

Abgesehen von der Schwierigkeit, dass „Jott“ („Zehn“) zwar gesprochen wird aber in dem A versteckt ist, wird am Beispiel deutlich, dass ein abrufbares Zerlegungswissen aller Zerlegungen bis 10 nötig ist, wenn der Zehnerübergang nicht zählend, sondern in Schritten berechnet werden soll. Bei F + H = muss zunächst F auf „Jott“ ergänzt werden. Im zweiten Schritt muss der Zerlegungspartner von H zu D bekannt sein. Nur wenn man weiß, dass das „D“ ist, kann man die Lösung „Dejott“ („Vierzehn“) gefunden werden, die aber wegen des Stellenwertsystems als AD geschrieben werden muss. Dass an dieser Stelle im ersten Schuljahr viele Kinder aussteigen, überrascht nicht, wenn man sich diese Problematik klar macht (ausführlich in 2016a, S. 76ff.).

Aber selbst wenn das Denken zum Zehner hin verankert ist, so müssen 45 Zerlegungen abrufbar zur Verfügung stehen, um alle Übergangsaufgaben in Schritten zu berechnen. Das ist bei der Mehrheit der Kinder Mitte der ersten Klasse noch nicht gegeben! Deshalb und weil der Zehner zu diesem Zeitpunkt für manche Kinder noch gar nicht im Blick ist, ist es unter inklusivem Gesichtspunkt zwingend, den Zehnerübergang nach hinten zu schieben und vor allem im 2. Schuljahr zu behandeln. Nur bleibt diese Thematik ein gemeinsamer Gegenstand (Feuser 2013). 

Dieses Hinausschieben gelingt, wenn man die Zahlraumerweiterung in den Bereich um 20 zunächst auf Fünferbasis vollzieht (siehe 2006a, 2007, 2016c). Wie Abb. 7 zeigt, entsteht „Jott“ aus den beiden E, während die Einerebene (A + C = D) auf der rechten Seite berechnet wird.

Dieses Rechnen auf Fünferbasis fundiert das Wissen für die im Zahlraum bis 19 aus Zehn und Zehnerrest gebildete zweistellige Zahl. Daneben wird durch das von der Wahrnehmung unterstützte Rechnen auf der rechten Seite der kleine Zahlraum bis 9 gefestigt, was die Grundlagen für das nachfolgende systematische Zerlegungstraining bis 10 verbessert.

Baustein 6: Operatives Zerlegungstraining bis 10

Viele Kinder rechnen noch im 5. Schuljahr an der Zahlreihe orientiert, weil ihnen das notwendige Zerlegungswissen fehlt. Andere „können“ ihre Zerlegungen, bringen dieses Wissen aber beim Rechnen nicht zum Einsatz, weil sie den Zusammenhang nicht verstanden haben. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass Zerlegungen im operativen Zusammenhang von Addition und Subtraktion kennengelernt und geübt werden. Das stellt sicher, dass das Zerlegungswissen für das Kopfrechnen nach dem Teile-Ganzes-Prinzip fruchtbar wird (Gerster/Schultz 2004, siehe auch Rödler 2016a, 2016b). 

Ein erfolgreiches Training, das als gemeinsames Geschehen im inklusiven Unterricht durchgeführt werden kann, erfordert viererlei:

 

Alle Kinder müssen zumindest im ganz kleinen Zahlraum (2, 3) in Zahlbausteinen denken.

Das Training muss im ganz kleinen Zahlraum beginnen, so dass ein gemeinsamer Einstieg möglich ist.

Differenzierung muss als Selbstdifferenzierung möglich sein.

Das Training muss sich im Laufe der ersten und zweiten Klasse wiederholen, so dass alle Kinder die Chance haben, ein hinreichend kompetentes Wissen aufzubauen.

 

Im Lehrgang „Mathe inklusiv“ ist das dadurch sichergestellt, dass zu jeder Zahl operative Übungen und niveaudifferenzierte Tests zur Verfügung stehen, so dass jedes Kind im eigenen Tempo an seinem Zerlegungspass arbeiten kann (Rödler 2016b). 

Baustein 7: Gemischte Aufgabenpäckchen (Filtern statt isolierte Analogieaufgaben)

Im Rechenlehrgang ist es üblich, neue Zahlräume zunächst über Analogieaufgaben zu erschließen, damit das Rechnen im neuen Zahlraum nicht vom Problem des Zehnerübergangs belastet wird. Das führt dazu, dass gerade schwache Rechner die falsche Vorstellung festigen, man könne mit den Ziffern als Zahlen rechnen. Auch hier ist es besser, mit einer komplexeren Situation einzusteigen und den gemeinsamen Unterricht dadurch zu ermöglichen, dass man auf einem passenden Abstraktionsniveau handelnd rechnet. Das macht es allen Kindern möglich, den entscheidenden Unterschied zwischen den Aufgaben zu bemerken und an den Zahlzeichen zu identifizieren.

Lässt man die Kinder zum Beispiel das in Abb. 10 links dargebotene Päckchen rechnen, so zeigt sich an den Ergebnissen ein signifikanter Unterschied: Mal bleibt die 1 (Zehn) stehen und mal nicht. Das korrespondiert damit, dass bei der Rechenhandlung im einen Fall genügend Einer vorhanden sind, um weggenommen zu werden, während im anderen Fall fehlende Einer aus dem Zehner herausgelöst werden müssen. Ist das verstanden, bekommen die Kinder die Aufgabe, im Päckchen nur die „einfachen Aufgaben“ zu rechnen, welche den Zehner nicht zerstören. Die anderen werden im ersten Schritt nur angekreuzt und im zweiten Schritt entweder handelnd oder mit einer Notation berechnet.

Dieses Filtern kommt den schwachen Rechnern entgegen, da sie im ersten Durchgang das für sie Einfache machen dürfen. Gleichzeitig lernen sie den Zehner als Grenze kennen, und sie erfahren, dass die Überlegung „Da rechne ich hinten und schreibe eine 1 davor“ richtig, aber eben nur bei manchen Aufgaben richtig ist. In diesem Zusammenhang führt das noch unreife Denken nicht zu einer Verfestigung des falschen Konzepts.

 

Dieses Filtern von Aufgaben lässt sich schon Anfang der ersten Klasse einführen, wenn zum Beispiel Aufgabenpaare wie 5 – 3 = / 3 – 5 = dargeboten werden. Die Rechenhandlung auf der Stufe „analoge Abbildung“ stellt sicher, dass alle Kinder bemerken, dass im einen Fall nicht genügend Würfel vorhanden sind, was gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf den wichtigen Aspekt größer/kleiner lenkt und auf die Tatsache, dass bei der Subtraktion die Leserichtung eine Rolle spielt. Die Aufforderung „rechne die Aufgaben, die gehen und streiche die andere“ hilft allen Kindern, beim Rechnen auf den Gehalt der Aufgabe zu schauen und nicht einfach schematisch loszurechnen.

Baustein 8: Aus Rechenhandlungen abgeleitete Notationen als Übergang ins strukturierte Kopfrechnen

Notationen wie das halbschriftliche Rechnen, der Rechenstrich oder die Notation der Teilschritte beim Zehnerübergang werden von Kindern oft als zusätzlich zu lernender Stoff empfunden. Sie bemühen sich um das Schema, das zur richtigen Lösung führt, ohne die Notation in sich verständig zu entwickeln. Das kann vermieden werden, wenn die Notationen aus den Rechenhandlungen der Kinder heraus entwickelt und begründet werden, sodass die Notation später von der Handlungsvorstellung begleitet werden kann. Gelingt es, dass ein Kind die Notation innerlich auf ihm bekannte Rechenhandlungen bezieht, dann stützt sie das sich entwickelnde Kopfrechnen. Einige Gleichungsnotationen des Zehnerübergangs möchte ich hier als Beispiel vorführen (alle relevanten abgeleiteten Notationen im Zahlbereich bis 100 finden sich in 2016a, S. 91f., 156ff., 166ff.).

Betrachtet man sich bei der Aufgabe 13 – 5 = die oben dargestellte Rechenhandlung, so wird im ersten Schritt die „3“ aus der 13 heraus gelöst, wobei die Zehnerstange übrig bleibt. Damit entsteht zunächst die falsche, weil noch unvollständige Gleichung 13 – 5 = 10. Im zweiten Schritt der Rechenhandlung werden die fehlenden beiden Würfel aus der Zehn herausgeholt, wodurch sich die richtige, weil nun vollständige Notation ergibt: 13 – 5 = 10 – 2 = 8. Die „10“ beschreibt dabei die Zwischenlösung und die „–2“ macht deutlich, dass noch etwas zu tun ist, um die Lösung zu finden. Das Minuszeichen ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Operationszeichen, das auf eine noch auszuführende Handlung hinweist.

Dieser besondere Aspekt des Minuszeichens als einer durchzuführenden Handlung wird noch deutlicher, wenn man die gleiche Logik im zweiten Schuljahr beim halbschriftlichen Rechnen anwendet. Dann ermöglicht diese Interpretation eine einheitliche Notationsform bei der Addition und Subtraktion zweistelliger Zahlen (Abb. 11). Das Minuszeichen bei der letzten Aufgabe ist hier ausdrücklich nicht als Vorzeichen zu lesen, sondern als Handlungsanweisung. („Zwei fehlen. Ich muss noch zwei wegnehmen (–2). Die hole ich aus der 20, die ich noch habe. Also 18.“)

Bei der abgebildeten Rechenhandlung der Addition 37 + 5 = wurde die Lösung 42 dadurch gefunden, dass der Zehner durch das Verschieben von drei Plättchen aufgefüllt wurde. Es ist nahliegend, dieses Schieben in die Notation zu übernehmen. Auf diese Weise ergibt sich die folgende „Schiebenotation“ (Abb. 13), die auch bei der Notation der Rechenhandlung in Baustein 10 angemessen wäre.

 

Wie die Beispiele zeigen, ist es möglich, Notationen in der Form einzuführen, dass sie vom Kind als aufgeschriebene Rechenhandlung verstanden werden können. Dafür ist es nötig, die unterschiedlichen Rechenhandlungen auf den unterschiedlichen Abstraktionsniveaus unter dem Blickwinkel der Handlung anzuschauen. Oft hängt diese Handlung vom Rechenmittel ab. Die Notationsformen der „Wechselgeldlogik“ (2016a, S. 169f.) entwickelt man zum Beispiel naheliegender Weise aus Rechenhandlungen mit Geldmünzen. Auch deshalb ist es im Blick auf den inklusiven Unterricht zentral, das Rechnen auf den unterschiedlichen Abstraktionsniveaus in der Gruppe etabliert zu haben. Nur dann kann man für ein besonderes Kind die Notationsform finden, die zu seiner persönlichen Handlungslogik passt und die es daher verständig ausführen kann. Denn nur bei verständiger Durchführung entwickelt sich an diesem gestützten Kopfrechnen ein strukturiertes Zahlkonzept.

Baustein 9: Größen als Modelle für Wertebenen nutzen

Größeneinheiten werden im Grundschulunterricht meist eher unter sachkundlichem Aspekt thematisiert. Das Rechnen mit Euro und Cent oder Meter und Zentimeter findet dagegen meist als Anwendung der gerade durchgenommenen Operation statt. Insbesondere in den ersten Schuljahren werden die Größen separiert und nicht gemischt. Bei Aufgaben wie 13 ct. + 25 ct. = oder 7 € – 4 € = sind die Einheiten ein Anhängsel, das die Rechnung selbst nicht beeinflusst. Damit bleiben mögliche produktive Impulse beim Rechnen mit Größen ungenutzt.

 

Das Besondere an Größen ist ja, dass größere und kleinere Einheit immer in einem bestimmten Verhältnis stehen (1 € = 100 ct / 1 cm = 10 mm / 1  Tag = 24 Std.). Größeneinheiten können und sollten unter diesem Aspekt der Wertebenen betrachtet werden, damit die Aufmerksamkeit auf solche Strukturen gerichtet wird, die ja auch beim Aufbau eines dezimalen Zahlkonzeptes zentral sind. Diese Wirkung entsteht aber nur dann, wenn der Zusammenhang von großer und kleiner Einheit in der Aufgabe eine wesentliche Rolle spielt.

 

Solche Aufgaben mit gemischten Größen zwingen den Rechnenden dazu, sich bei jeder Aufgabe das jeweilige Größenverhältnis klar zu machen. Wenn wir die Kinder dazu bringen wollen, Zahlen nach Einern, Zehnern, Hundertern aufgebaut anzuschauen, dann sollten wir auch das Größenrechnen dazu benutzen, die Aufmerksamkeit auf die Verhältnisse zwischen den Wertebenen zu legen (2016a, S. 177 und 2016d).

Baustein 10: Gemeinsamer Einstieg in große Zahlräume durch Absenkung des Abstraktionsniveaus

Wenn der Zahlraum in den zwei-, drei- oder vierstelligen Bereich erweitert wird, lohnt es sich unter inklusivem Gesichtspunkt, das Abstraktionsniveau auf die unterste Stufe der „analogen Abbildung“ abzusenken (ausführlich in 2006a, S. 150ff., 2016a, S. 138ff.). Der Einstieg besteht darin, wie in Abb. 15 gezeigt, unüberschaubar große Anzahlen durch dezimale Ordnung sichtbar zu machen.

Da es für dieses dezimale Ordnen genügt, wenn man bis 10 zählen kann, ist es hier möglich, auch jene Kinder einzubeziehen, die sich auf dieser Stufe bewegen. Gleichzeitig hilft der Vorgang, das Grundprinzip zu verstehen, nach dem unsere Zahlen aufgebaut sind und das Verständnis für die Stellenwertschreibweise aufzubauen: Die „1“ in 149 ist der große Haufen. Daher ist die „1“ vorne keine 1, sondern eine 100! (Ausführlich in 2016a, S. 135f.)

Mit diesen in analoger Abbildung dezimal geordneten Zahlen lässt sich sogar rechnen. Wenn man wissen will, wie viel 34 + 29 zusammen ergibt, muss man die Erbsen zusammenführen. Naheliegender Weise nimmt man eine Erbse von den 3 und ergänzt die 9 so, dass ein neuer Zehnerhaufen entsteht. Das Ergebnis 63 zeigt sich bei sauberer Anordnung unmittelbar. Das noch nicht abstrakt denkende Kind lernt dabei neben der Rechenhandlung auch, dass die vordere Zahl (diesem Kind ist es noch keine Ziffer) beim Aufschreiben die Anzahl der Haufen nennt, also einen anderen kardinalen Wert hat als Sechs. Es verbessert also seine Grundlagen für ein Denken in Wertebenen und Verständnis der mehrstelligen Zahlzeichen.

Das Beispiel zeigt, dass auch kognitiv schwache Kinder profitierend am gemeinsamen Unterricht teilnehmen können und viele Impulse bekommen, wenn das Abstraktionsniveau im Unterricht angepasst wird.

Schlussbemerkung

Nicht alles ist Didaktik. Eine Klasse inklusiv führen, bedeutet mehr als die Prozesse des Beibringens zu organisieren. Natürlich ist die Entwicklung des Soziallebens der zentrale Baustein, an dem sich die Inklusion beweisen muss. Das heißt aber nicht, dass Didaktik dabei zweitrangig wäre. Gerade weil es um die Gestaltung des Soziallebens geht, brennt die Frage, wie der Unterricht als Kerngeschäft der Schule diesem Sozialleben dienen kann. Und das ist eine urdidaktische Herausforderung. Hier praktische Hilfen an die Hand zu geben und Wege aufzuzeigen, ist der Anspruch dieses Artikels und der zugrundeliegenden Reihe „Mathe inklusiv“.

 

Literatur

Gerster, H.D./ Schultz, R. (2004): Schwierigkeiten beim Erwerb mathematischer Konzepte im Anfangsunterricht, (Download PH Freiburg)

Radatz, H./Schipper, W. u. a. (1999): Handbuch für den Mathematikunterricht 3. Schuljahr, Schroedel / Hannover

Rödler, Klaus (2006a): Erbsen, Bohnen, Rechenbrett-Rechnen durch Handeln, Kallmeyer-Verlag / Seelze

Rödler, Klaus (2006b): Black socks. In: Grundschule Mathematik 9 / 2006, Friedrich-Verlag / Velber

Rödler, Klaus (2007): Die rot-blauen Würfel und Fünferstangen –Rechnen durch Handeln, Kallmeyer-Verlag / Seelze, (2. Aufl. 2013, Selbstverlag / Frankfurt)

Rödler, Klaus (2010): Dyskalkulieprävention durch das Rechnen mit Bündelungsobjekten. In: SWZ 114 / 2010, Halbergmoos

Rödler, Klaus (2012): Frühe Alternativen zum Zählen. In: SWZ 129, Halbergmoos

Rödler, Klaus (2014): Ein Mathematikunterricht für alle. In: BHP (4 / 2014, Psychosozialverlag / Darmstadt), nachgedruckt in: Sonderpädagogische Förderung in NRW 1 / 2015, Brühl und: VDS Landesmitteilungen Niedersachsen 1 / 2015, Dresden

Rödler, Klaus (2016a): Mathe inklusiv: Ratgeber für die 1. / 2. Klasse, AOL-Verlag, Hamburg

Rödler, Klaus (2016 b-f): Mathe inklusiv: Materialbände 1–5, AOL-Verlag, Hamburg

Siehe auch: www.rechnen-durch-handeln.de

 

Klaus Rödler

Dr. Klaus Rödler arbeitet promoviert als Grundschullehrer in einer Inklusionsklasse. Außerdem war er zeitweise Unidozent, Schulbuch- Co-Autor und Mitherausgeber von Die Grundschulzeitschrift. Seit 20 Jahren gibt er Lehrer-Fortbildungen und hat sich seit 2006 auf den Bereich „Rechnenlernen und Prävention von Rechenschwäche“ spezialisiert.

Weitere Informationen über den Autor finden Sie auf seiner Homepage: 

www.rechnen-durch-handeln.de

 

 

Klaus Rödler

Mathe inklusiv

Ratgeber für die Klasse 1./2. Mit 5 Materialbänden

2016, AOL-Verlag/Hamburg

 

Mathe inklusiv heißt der neu im AOL erschienene Ratgeber und macht damit im Titel deutlich, worum es geht: Der Rechenunterricht soll sich in einen inklusiven Gesamtunterricht einfügen. Auch das Rechnen soll „am gemeinsamen Gegenstand“ gelernt werden. Statt den Unterricht in parallele Lehrgänge auf unterschiedlichen Niveaus aufzuspalten, wird dargestellt, wie Differenzierung dabei als „Selbstdifferenzierung“ funktioniert, wie man es etwa vom schreiborientierten Deutschunterricht kennt: Verschiedene Kinder gehen mit einer einheitlichen Aufgabenstellung entsprechend ihren unterschiedlichen Lernniveaus unterschiedlich um. Dieser Ansatz wird pädagogisch und allgemeindidaktisch entwickelt und dann fachdidaktisch bis ins Kleinste durchdekliniert. Der Interessierte hat damit ein Werk an der Hand, das ihn durch den Mathematikunterricht der ersten zwei Jahre begleitet und das in der Verbindung mit den fünf Materialbänden eine echte Alternative zur Verwendung eines Schulbuches bietet.

Auch derjenige, der auf der Grundlage eines Lehrwerkes unterrichtet, findet im Ratgeber und vor allem in den Materialbänden zahlreiche praxiserprobte Impulse, die sich in der Klasse wie im Förderunterricht einsetzen lassen. Diese sind deshalb interessant, weil der Lehrgang alternative Handlungsmöglichkeiten aufzeigt.

In Materialband 1 (Zahlverständnis und Operationen) geht es um die Grundlegung eines kardinalen Zahlkonzepts sowie die frühe Ablösung vom fingerzählenden Rechnen. Dies geschieht unter anderem durch die Verwendung von Holzwürfeln als Rechenmittel, die das Abzählen an den Fingern ersetzen, wobei der Kunstgriff beim Einstieg darin besteht, dass nicht wie üblich mit der Addition begonnen wird, sondern mit Multiplikation und Division. Damit wird sichergestellt, dass alle Kinder mit Rechenhandlungen beginnen, dass das erste Rechnen also ein gemeinsamer Gegenstand für alle ist. Bei diesen Rechenhandlungen und bei parallel mit den Holzwürfeln durchgeführten Zählprozessen und der Arbeit mit aus den Würfeln gebauten „Gebäuden“ fundiert sich auch bei den Leistungsschwachen ein Grundwissen der kardinalen Bedeutung der auf einen Blick erfassbaren Zahlen bis 4. Darauf aufbauend folgen dann Addition und Subtraktion nach, die nun nicht mehr zählend, sondern im „Teile-Ganzes-Prinzip“, also im Zusammenhang mit den in diesem kleinen Zahlenraum möglichen Zerlegungen eingeführt werden. Dabei steht die Subtraktion am Anfang, weil die Bedeutung der Zerlegung an ihr ebenso zwangsläufig deutlich wird wie der Zusammenhang von Operation/Gegenoperation und Tauschaufgabe.

Materialband 2 (Der Zehnerübergang im Zahlenraum bis 20) setzt hier dadurch an, dass Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 20 noch nicht auf der Grundlage des Zehners, sondern des Fünfers handelnd berechnet werden. Der Ratgeber begründet, warum die Grundlagen des Zehnerübergangs für viele Kinder erst mit dem Ende der ersten und manchmal auch erst Anfang der zweiten Klasse wachsen. Damit der Unterricht auch an dieser Stelle ein gemeinsamer sein kann, werden Fünferstangen als Bündelungsobjekte eingeführt, die ein Rechnen ohne Zehnerübergangsproblematik erlauben. Bei diesen Rechenhandlungen festigt sich nicht nur das Verständnis für die Zehner-Einer-Gliederung des zweistelligen Zahlraums. Vor allem erfahren die Kinder bei einer Aufgabe wie 7 – 3 =, da nur wieder Würfel weggenommen werden können, die Notwendigkeit des Entbündelns. Die Fünferstange wird als „reversibles Bündelungsobjekt“ erfahren, so dass später das Konzept des „reversiblen Zehners“ wachsen kann.

Daneben bietet Band zwei ein systematisch aufgebautes Zerlegungstraining bis 10 und einen ersten Einstieg in das Berechnen von Zehnerübergängen, wobei, wie schon im kleinen Zahlraum, mit der Subtraktion begonnen wird, die sich auch hier als die für das Verständnis produktivere Operation erweist.

In Materialband 3 (Rechnen im Zahlenraum bis 100) wiederholen sich die Rechenhandlungen im Hunderterraum. Dieses Prinzip der didaktischen Schleifen unterstützt die schwächeren Rechner dabei, auch die Rechenhandlungen im größeren Zahlenraum verständig durchzuführen.

Neu hinzu kommen dabei drei Elemente: Erstens werden aus den Rechenhandlungen vielfältige, auch ungewohnte, Notationsformen abgeleitet, so dass immer mehr Kinder die Rechenhandlung durch eine Notation ersetzen. Zweitens gewinnt das Größenrechnen an Bedeutung und zwar in der Form des „Rechnen mit gemischten Größen“. Aufgaben wie 4 € + 25 ct + 1,25 € = oder 1  Std. – 20 min. = zwingen dazu, die Wertebenen in Beziehung zueinander zu setzen, was das Denken in reversiblen Wertebenen, auf dem ja auch das kompetente Rechnen mit Zahlen aufbaut, unterstützt.

Schließlich wird das „Filtern von Aufgaben“ intensiv fortgeführt, das schon in Band 1 und 2 eingeführt wurde. Hierbei geht es darum, grundlegende Unterschiede in Aufgabenpäckchen zu beachten: 5 – 3 / 3 – 5 (lösbar oder nicht?) 15 – 3 / 15 – 7 / 15 – 5 / 15 – 6 oder 42 – 3 / 42 – 1 / 42 – 2 / 42 – 4 (Zehnerübergang oder nicht?). Analogieaufgaben werden als Einstieg in den neuen Zahlenraum ausdrücklich gemieden und tauchen stattdessen als die Aufgaben in „gemischten Päckchen“ auf, die zuerst berechnet werden sollen. (Die Aufgaben mit Übergang werden ausgefiltert und bekommen zunächst nur ein Kreuz.)

Die Materialbände 4 (Einmaleins und Geometrie) und 5 (Projekte für die 1./2. Klasse) bieten nicht nur ein systematisch aufgebautes 1 x 1-Training. Vor allem sind sie eine Fundgrube für mathematisch interessante Fragestellungen, bei denen sich Geometrie und Sachrechnen mit dem Aufbau des Rechenlehrgangs verbinden. Die Arbeitsblätter aus diesen beiden Bänden bereichern jeden Mathematikunterricht, unabhängig davon auf welcher fachdidaktischen Grundlage dieser steht und an welchem Schulbuch er sich orientiert.