Eine junge Frau mit Behinderung schaut erstaunt in die Runde.

Das Projekt MINCE bringt inklusive Lernangebote in Gemeinden.

aus Heft 4/5/2016 – Projekt „MINCE“
Karin Kicker-Frisinghelli

Inklusion: Aufgabe der Gesellschaft

Menschen mit schweren und schwersten Behinderungen sind in unserer Gesellschaft nach wie vor eine Gruppe, deren soziale Inklusion und gesellschaftliche Partizipation nicht als zufriedenstellend zu bewerten ist. Der Anspruch an Inklusion kann vor dieser Gruppe nicht enden. Nein, Inklusion wird sich an dieser Gruppe erst entscheiden, wie Fragner in der Einleitung zum Themenheft „Partizipation von schwerbehinderten Menschen“ (2015, S. 1) präzise feststellt.

Menschen mit schweren (intellektuellen) Behinderungen sind in fast allen Lebensbereichen auf personelle und materielle Unterstützung angewiesen. Dazu kommt, dass Menschen mit schweren Behinderungen in der Gesellschaft nicht sichtbar sind – nach wie vor leben sie größtenteils in Institutionen, isoliert von der Gesellschaft und entsprechend ausgegrenzt. Die Exklusion von Menschen mit schweren Behinderungen basiert unter anderem eben gerade auf deren öffentlicher Absenz (vgl. Jantzen 2015, S. 53). Aufgrund der sich ständig verändernden (sozialpolitischen) Bedingungen kann aber auch nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Situation für Menschen mit schweren Behinderungen von alleine verbessern wird. Konkrete Aktionen und Handlungen sind hierzu erforderlich. Eine solche konkrete Aktivität setzt die Lebenshilfen Soziale Dienste GmbH (Lebenshilfen SD) mit dem Projekt MINCE – Model for Inclusive Community Education, das im Rahmen von ERASMUS+ von der EU gefördert wird. 

Das Projekt

In der Zeit von November 2015 bis Oktober 2017 koordinieren die Lebenshilfen SD das Projekt MINCE – Model for Inclusive Community Education. Während der Projektlaufzeit entwickeln sie mit Partnern aus sechs weiteren europäischen Ländern (Bulgarien, Deutschland, Kroatien, Polen, Portugal, Slowenien) ein innovatives Modell für eine inklusive Community Education. Die Idee hinter dem Projekt ist, dass einzelne soziale Räume, Nachbarschaften, Gruppen – eben Communities – ein Werkzeug in die Hand bekommen, mit dem sie zukünftig inklusive Angebote an niederschwelligen Bildungs- und Lernmöglichkeiten schaffen, an denen alle Menschen – so auch Menschen mit schweren und schwersten Behinderungen – teilnehmen können. Die Projektidee basiert auf dem Anspruch, dass Inklusion gelingt, wenn alle gesellschaftlichen Systeme daran arbeiten, dass die Arbeit an sozialer Inklusion schließlich als Aufgabe der Gesellschaft definiert wird. Die Herausforderungen und Barrieren, denen Menschen mit schweren Behinderungen gegenüberstehen, können nicht länger als individuell zu lösende Problemlagen gesehen werden und deshalb bei der einzelnen Person und den sie betreuenden Menschen und Institutionen verbleiben. Vielmehr geht es darum, dass die Gesellschaft generell – und einzelne soziale Gruppen im Besonderen – lernen, Verantwortung für gelingende soziale Inklusion der Zielgruppe Menschen mit schweren Behinderungen mit zu übernehmen. 

Miteinander und voneinander lernen

Menschen mit schweren Beeinträchtigungen werden in diesem Prozess nicht nur mitgedacht, sie werden aktiv miteinbezogen, sollen den Prozess also gemeinsam mit anderen Menschen gestalten. Alle Beteiligten können miteinander und voneinander lernen und Erfahrungen sammeln. Aus Sicht der Projektpartnerschaft eignet sich Community Education dazu, solche Prozesse in Gang zu bringen, wie es auch Wagner/Steiner/Lassnigg (2013) unter Bezugnahme auf unterschiedliche Studien beschreiben: Community Education ist eine „Verbindung von Bildungsarbeit mit Gemeinwesenarbeit und/oder Regionalentwicklung“, sie schafft „Lerngelegenheiten innerhalb und für die Community“ und forciert „Partizipation und Empowerment von sozial Benachteiligten“ (S. 7). Auf diese und andere Wirkungen zielt auch die Aktionslinie 6 der LLL 2020 – Strategie zum lebensbegleitenden Lernen in Österreich ab, die eine Verstärkung der Community Education als wesentlichen Bestandteil eines lebensbegleitenden Lernens vorsieht (vgl. BMUKK 2011, S. 32ff.). 

Projektziele

MINCE verfolgt insbesondere das Ziel, dass interessierte Gruppen, die sich in Nachbarschaften finden, niederschwellige und partizipative Angebote schaffen, an denen Menschen mit schweren Beeinträchtigungen selbstverständlich teilnehmen. Die Niederschwelligkeit der neu zu entwickelnden Angebote wird zudem anderen bildungsfernen Menschen und Personen, denen der Zugang zu Bildung bislang erschwert oder gar verwehrt war, Anreize bieten, gemeinsam Lern- und Bildungsangebote in Anspruch zu nehmen. In erster Linie wird es hier um informelle Angebote an Lernen und Bildung gehen, die sehr unterschiedlich ausfallen können: seien es Leserunden, der Besuch kultureller Veranstaltungen oder andere gemeinsame Aktivitäten, in denen gemeinsam etwas Neues erfahren, eben gelernt, wird. Diese community-basierten Gruppenaktivitäten bieten Menschen mit und ohne Beeinträchtigung neue Chancen, da sie sich flexibel an den jeweiligen Bedürfnissen und Interessen der entsprechenden Teilnehmenden bzw. der aktiven Gruppe orientieren. Barrieren im Zugang zu niederschwelligen Lern- und Bildungsangeboten werden somit abgebaut und neue Zielgruppen erreicht. 

Peer-Vermittler

Von Seiten der Gesellschaft bestehen noch Hemmschwellen im Umgang mit Menschen mit schweren Behinderungen. Die Lebenswelten und Bedürfnisse von Menschen mit schwerer Behinderung müssen für ein gelingendes Miteinander verstanden werden. MINCE ist auch als ein Modell des Verstehens und Zusammenlebens zwischen Individuen und Gesellschaft zu sehen, das somit als Vorbereitung der oben beschriebenen Aktivitäten und einer inklusiven Community Education eingeordnet werden kann. Das Projekt zielt mit der Entwicklung von verschiedenen Methoden und Angeboten auf mehrere gesellschaftliche Ebenen und Zielgruppen ab und bildet in seiner Gesamtheit dann das Model for Inclusive Community Education. Entsprechend den Ideen des Empowerments und der Selbstvertretung ist ein Ziel im Projekt, ein Training für Menschen mit Behinderung zu entwickeln, durch das sie lernen, als Peer-Vermittlerinnen oder Peer-Vermittler auch die Interessen der Menschen mit schweren Behinderungen zu vertreten und als Vermittler zwischen Gesellschaft und Menschen mit schweren Behinderungen zu agieren. Ebenso werden Maßnahmen zur Weiterbildung professioneller Begleiterinnen und Begleiter in der Behindertenarbeit entwickelt. Organisationen der Behindertenhilfe werden sich zukünftig vermehrt mit Themen wie beispielsweise Zielgruppenerweiterung oder Öffnung bzw. Erweiterung des Dienstleistungsportfolios auseinandersetzen. Sie werden ihren Auftrag stärker im Hinblick auf die Inklusion der Menschen mit schwerer Behinderung definieren müssen. Durch das Projekt sollen sie entsprechende Vorschläge bekommen. Das Projekt wendet sich auch an interessierte Menschen der jeweiligen Kommunen und Nachbarschaften, an Bildungseinrichtungen und Vereine. Langfristig soll eine Umsetzung von inklusiven, community-basierten Lern- und Bildungsangeboten in einzelnen Gemeinden, sozialen Räumen oder Nachbarschaften erreicht werden. 

Arbeitsweise

Kernelement der gesamten Projektarbeit ist eine partizipative und inklusive Vorgehensweise. So werden in die jeweiligen Entwicklungen die beteiligten Personen schon direkt miteinbezogen. In allen Partnerländern wurden Arbeitsgruppen gebildet, in denen sowohl Menschen mit Behinderung als auch professionelle Betreuerinnen und Betreuer sowie andere interessierte Personen mitarbeiten. So sind alle im Projekt angesprochenen Zielgruppen bereits als Expertinnen und Experten in die Entwicklung der einzelnen Maßnahmen und Produkte involviert. 

Info zur Organisation

Die Lebenshilfen Soziale Dienste GmbH ist seit über zehn Jahren im Bereich von EU-Projekten tätig und hat Erfahrung in der Koordination und als Partnerin entsprechender Projekte. Zentrales Anliegen stellen dabei immer die Selbstbestimmung und Inklusion der Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft dar. http://lebenshilfen-sd.at/ueber_uns/eu_projekte

Literatur

BMUKK – Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (2011): LLL 2020. Strategie zum lebensbegleitenden Lernen in Österreich. Online verfügbar: https://www.bmb.gv.at/ministerium/vp/2011/lllarbeitspapier_ebook_gross_20916.pdf?4dtiae (29.08.2016). 

Fragner, Josef (2015): Intro. In: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Jg. 38, H. 2, S. 1.

Jantzen, Wolfgang (2015): Autonomie und Selbstbestimmung. In: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Jg. 38, H. 2, S. 49–59. 

Wagner, Elfriede/Steiner, Mario/Lassnigg, Lorenz (2013): Community Education in Österreich. Eine Standortbestimmung. Endbericht. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur. Online verfügbar: http://www.equi.at/dateien/CE-Endbericht_IHS.pdf (29.08.2016).