Die Farben Blau, Gelb, Orange und Grün dominieren das Bild. Florale Formen, die mit Schwarz umrandet und dann ausgemalt sind.

 

aus Heft 2/2019 – Fachthema
Silke Reimer

„Hat er denn auch schön mitgemacht?“ – Entwicklungspsychologisch orientierte Musiktherapie bei Menschen mit komplexer Mehrfachbehinderung

Wie kann Kontakt mit Menschen mit komplexer Behinderung gelingen? Wie kann Gemeinsamkeit erlebt werden, wenn ein Mensch in seiner eigenen Welt verschlossen zu sein scheint? Wie können Ruhe und Aufmerksamkeit entstehen, wenn ein Mensch im Alltag häufig unruhig und angespannt ist? Und vor allem: Was kann Musiktherapie zu einem positiven Erleben und zur Entwicklung von Beziehungsfähigkeit beitragen?

Zwei Sätze begleiteten zu Beginn meine Arbeit als Musiktherapeutin in einem Pflegewohnheim für Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung. „Viel Spaß!“, wurde uns freundlich von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gewünscht, wenn ich einen der Heimbewohner oder -bewohnerinnen zur Musiktherapie abholte. Auch die damalige Heimleiterin hatte oftmals erlebt, wie durch Musik „Spaß“ entstehen konnte und viele der oft sehr zurückgezogenen Heimbewohner Freude am Erleben von Musik ausdrückten. Vor diesem Hintergrund sah sie auch den Auftrag an die Musiktherapie darin, Freude in das Leben der schwerbehinderten Heimbewohner zu bringen. Dies gelang bei einigen Bewohnern sehr gut. Sie reagierten auf die von mir gespielten Lieder oder Klänge mit Freude und manche konnten trotz schwerster körperlicher Beeinträchtigungen mit Unterstützung auch selbst auf Instrumenten spielen, sodass ein gemeinsames Musizieren möglich wurde. Dann konnte ich die Frage, die mir zum Ende der Therapiestunde von Kollegen oder Kolleginnen oft gestellt wurde, bejahen: „Hat er/sie denn auch schön mitgemacht?“

Viel häufiger jedoch begegneten mir Heimbewohner, bei denen sich Freude nicht einfach hervorrufen ließ. Auch ein gemeinsames musikalisches Spiel kam nicht zustande, was oftmals durch schwerste körperliche Behinderungen bedingt war oder durch Schwierigkeiten, mit der Umwelt oder den Mitmenschen in Kontakt zu treten. In dieser Zeit begegnete mir ein Satz des Pädagogen Andreas Fröhlich, der die „Einschränkung oder gar die scheinbare Unmöglichkeit, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, sich mit ihnen zu verständigen, das heißt, Gemeinsamkeit mit ihnen herzustellen“ (Fröhlich 2010, 13), als die am schwersten wiegende Folge komplexer Behinderung beschreibt. 

Musiktherapie für Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung

In der Musiktherapie wird Musik „im Rahmen der therapeutischen Beziehung zur Wiederherstellung, Erhaltung und Förderung seelischer, körperlicher und geistiger Gesundheit“ (musiktherapie.de, aufgerufen am 30.11.2018) eingesetzt. Mit Musik sind nicht allein Töne, Melodien, Lieder oder Rhythmen gemeint, sondern es kann auch Bewegung einbezogen werden oder das Spüren von Schwingungen der Instrumente. Musiktherapie wird als Psychotherapie verstanden und in unterschiedlichen Bereichen (z.B. Psychiatrien, Altenheimen, Musikschulen etc.) angewendet. Je nach Klientel und Arbeitsumfeld, aber auch abhängig von der Ausbildung des Musiktherapeuten/der Musiktherapeutin gibt es in der Musiktherapie unterschiedliche Herangehensweisen und Ziele. 

Für Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung werden in Wohnheimen oder Tagesstätten Einzeltherapien, aber auch Gruppenstunden angeboten. In Gruppen werden meist Lieder gesungen, die der Therapeut/die Therapeutin oder andere Gruppenleiter anstimmen und begleiten. Je nach personellen Möglichkeiten der jeweiligen Einrichtung kann er/sie durch Betreuer oder Pflegekräfte unterstützt werden, die entweder mitsingen oder -spielen und so zu einem Gruppenerlebnis beitragen oder die die Menschen mit Behinderungen unterstützen, Instrumente zu spielen oder zu spüren. Viele Menschen mit komplexer Mehrfachbehinderung können jedoch bei Gruppenaktivitäten, die die Fähigkeit zum Nach- oder Mitmachen erfordern, nicht den Ideen oder Spielvorschlägen des Gruppenleiters folgen. Die Musikpädagogin Salmon, die seit vielen Jahren musikalische Gruppen der Lebenshilfe in Salzburg leitet, zeigt in ihrer DVD „Zwischen Freiraum und Ritual“ (Salmon & Kallós 2010) unterschiedliche Arten der „Teilhabe“ an einer Gruppe. Während manche Teilnehmer voller Freude mitspielen oder mitsingen, werden andere vorwiegend dann aktiv, wenn sich ein Betreuer/eine Betreuerin um ihn/sie kümmert. Wieder andere zeigen kaum eigene Initiative und scheinen vor allem von der musikalischen Atmosphäre zu profitieren. Diesen Menschen kann man angemessener in Einzeltherapien begegnen, wo der Therapeut sich ganz auf Bedürfnisse und Fähigkeiten ausrichten kann. Hierfür ist es notwendig, dass der Therapeut/die Therapeutin darin geschult ist, musiktherapeutische Interventionen anzuwenden, die auch ohne das aktive Mitmachen des Patienten wirksam sein können. Diese Interventionen werden in den folgenden Abschnitten beschrieben. 

Entwicklungspsychologisch orientierte Musiktherapie 

Wenn ein Mensch, wie oben beschrieben, nicht nach- oder mitmacht oder sogar positive Reaktionen auf Musik ausbleiben, so kann Kontakt vor allem entstehen, wenn der Therapeut oder die Therapeutin das Verhältnis umdreht: Nicht der Mensch mit schwerer Mehrfachbehinderung soll auf die Musik reagieren, sondern der Therapeut/die Therapeutin gestaltet seine/ihre musiktherapeutischen Interventionen ausgehend von den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung. Dazu nimmt er/sie den körperlichen und emotionalen Ausdruck des Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung wahr, interpretiert diese Verhaltensweisen und reagiert mit entsprechenden Interventionen, deren Wirksamkeit erneut durch die Beobachtung der Reaktionen überprüft wird (siehe Grafik rechts oben). Da der körperliche und emotionale Ausdruck sehr individuell ist, schult sich der Therapeut/die Therapeutin darin, Atmung, Herzschlag, Hautfarbe, Körperspannung und mimischen Ausdruck wahrzunehmen und aus diesen Beobachtungen und Empfindungen Rückschlüsse auf die Emotionen und Bedürfnisse seines Gegenübers zu ziehen.

 

Entwicklungspsychologisch orientierte Musiktherapie wurde von der Musiktherapeutin Schumacher und der Entwicklungspsychologin Calvet begründet. Sie entwickelten für die musiktherapeutische Arbeit mit Menschen mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (ICD-10, F84) vier Merkmallisten zur Einschätzung der Beziehungsqualität, genannt EBQ (Schumacher, Calvet & Reimer 2013). In der sogenannten IBQ-Skala wird der instrumentale Ausdruck eines Menschen beschrieben, weiterhin der stimmlich-vorsprachliche Ausdruck (VBQ) und der körperlich-emotionale (KEBQ). Die vierte Skala beschreibt den Therapeuten und seine Interventionen (TBQ). Die Skala zum körperlich-emotionalen Ausdruck sowie die Therapeutenskala wurden für die Musiktherapie mit Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung überarbeitet und angepasst (Reimer 2011a, Reimer 2011b). Sie können der Diagnostik dienen, der Evaluation von Therapieverläufen, vor allem aber sind sie ein Leitfaden für musiktherapeutische Interventionen, die sich an Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie orientieren. Die EBQ-Skalen umfassen sieben sogenannte Modi, die in ihrem Aufbau der Entwicklung der Beziehungsfähigkeit folgen, wie sie der Säuglingsforscher Stern (2007) beschrieben hat. Mit dem Begriff „Beziehung“ ist hier nicht allein die zwischenmenschliche Beziehungsfähigkeit gemeint, sondern auch die Beziehung zum eigenen Körper, zur eigenen Stimme und zu Objekten. Im folgenden Text werden die sieben Modi der EBQ-Skalen und die jeweiligen musiktherapeutischen Interventionen beschrieben.

Modus 0 „Kontaktlosigkeit“

Als die Musiktherapeutin zu Noah ans Bett tritt und ihn begrüßt, zeigt er keine sichtbaren Reaktionen. Auch, ob und wie er das Spiel der Gitarre wahrnimmt, bleibt für die Therapeutin im Unklaren, sodass zwischen ihr und Noah zunächst kein spür- oder sichtbarer Kontakt entsteht. 

Sinnes- und Körperbehinderungen können große Auswirkungen auf die Entwicklung von Fähigkeiten und Verhaltensweisen, besonders aber auch auf das Empfinden und Erleben haben. Die Wahrnehmung von Reizen und die Wahrnehmungsverarbeitung können auf vielfältige Weise beeinträchtigt sein (vgl. Reimer 2016):

 

Beeinträchtigung der Seh- oder Hörfähigkeit

Störung der Wahrnehmungsverarbeitung (Reize werden zwar aufgenommen, können aber nicht sinngebend verarbeitet werden)

Behinderung der Bewegungsfähigkeit, sodass Blick oder Körper nicht auf eine Klangquelle etc. ausgerichtet werden können

emotionale Störung/Traumatisierung 

Interessenverlust, evtl. auch vor dem Hintergrund einer Depression.

 

In der Phase des gegenseitigen Kennenlernens – aber auch im Verlauf einer Therapie – kann ein Gefühl von Kontaktlosigkeit entstehen. Zwar nimmt der Therapeut/die Therapeutin an, dass seine/ihre Musik wahrgenommen wird, der Mensch mit schwerer Mehrfachbehinderung zeigt jedoch keine sichtbaren Reaktionen. 

Der Therapeut forciert den Kontakt nicht, sondern schafft mit seiner Musik zunächst eine Atmosphäre, in der sich der Mensch mit schwerer Mehrfachbehinderung angenommen fühlt. Hierzu werden Musikinstrumente eingesetzt, die lange und resonanzreich klingen. Die Spielweise des Therapeuten/der Therapeutin hat keinen Aufforderungscharakter, sondern hüllt den Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung sozusagen ein (vgl. Schumacher & Calvet 2001). Im weiteren Verlauf begibt sich der Therapeut auf die Suche nach Möglichkeiten des Kontakts. Hierbei lässt er sich von seiner Annahme, welche Ursache die scheinbare Kontaktlosigkeit haben könnte, leiten – vor allem aber von den Reaktionen seines Gegenübers. Interventionen hierzu werden unter Modus 1 beschrieben.

Modus 1 Sensorischer Kontakt

Die Therapeutin legt Noah eine Kantele (kleines Saiteninstrument, das meist akkordisch gestimmt wird) an den Rücken, damit er die Schwingungen des Instrumentes spüren kann. Sie spielt synchron zu seinem Atemrhythmus, um für ihn Spürbares und Hörbares zu verbinden. Dazu singt sie eine einfache Melodie, wodurch eine musikalische Form entsteht. Nach einigen Klängen dreht Noah leicht seinen Kopf und scheint die Klangquelle zu suchen.

Die Fähigkeit, Wahrnehmungen positiv zu verarbeiten, ist Voraussetzung dafür, dass sich ein Mensch für Reize aus der Umwelt öffnen kann. Durch Interventionen wie im Beispiel beschrieben, werden die Sinneswahrnehmungen Hören und Spüren, evtl. auch Sehen miteinander verknüpft. Damit der Mensch mit schwerer Mehrfachbehinderung diese Reize mit dem eigenen Empfinden in Verbindung bringen kann, ist es wichtig, die musiktherapeutische Intervention ausgehend von seinem Atem, seiner Körperlichkeit (d.h. Körperbewegungen, Körperspannung) und seinem Gefühlsausdruck zu gestalten. Musikalisch gesprochen bedeutet dies, dass z.B. das Tempo der Musik dem Rhythmus des Atems oder der Bewegung entspricht oder die Lautstärke der Musik auf die Körperspannung abgestimmt wird. Auch die Intensität der angebotenen Reize kann eine wichtige Rolle spielen. Manche Menschen ertragen vorsichtige Berührungen kaum, während ein festes Ausstreichen z.B. im Rahmen eines sogenannten Körperliedes akzeptiert oder sogar genossen wird.Nimmt ein Mensch die Angebote des Therapeuten wahr, so können kurzfristige Blicke oder ein Hinwenden zur Klangquelle auftreten oder der Mensch mit schwerer Mehrfachbehinderung zeigt eine kurze positive Reaktion. Dies wird als „Kontaktreaktion“ bezeichnet (Schumacher et al. 2013, 16). 

Menschen mit geringeren körperlichen Einschränkungen greifen evtl. nach Instrumenten, verwenden sie aber vorwiegend sensorisch, d.h. zum Spüren. So werden angebotene Trommelschlägel z.B. in den Mund gesteckt und nicht zum Trommeln verwendet. Über Saiten wird in der Längsrichtung hinübergestrichen, anstatt sie durch Anzupfen zum Klingen zu bringen. Solche Verhaltensweisen zeigen ein starkes sensorisches Bedürfnis, sodass in der Musiktherapie zunächst das Spüren – mehr noch als das Hören oder aktive Spielen – im Vordergrund steht.

 Modus 2 Affektregulation

Barbara ist im Alltag häufig sehr angespannt. Sie sitzt oft in ihrem Rollstuhl und bewegt ihren Oberkörper mit ernster Mimik und hoher Körperspannung stereotyp vor und zurück. Dabei atmet sie stoßweise und gepresst aus. Sie scheint in dieser Zeit sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein und nimmt keinen Blickkontakt zu ihrer Umwelt auf. In der Musiktherapie bestand die Intervention zunächst darin, sich auf den hohen Affekt abzustimmen. Dazu spielte die Therapeutin im Rhythmus von Barbaras Schaukeln auf einer Trommel und stimmte sich mit der Kraft und Lautstärke ihres Spiels auf die Intensität von Barbaras Anspannung ab. Barbara blickte zwar kurz auf und schien das Spiel der Therapeutin zu bemerken, blieb aber nach wie vor angespannt. In einer der nächsten Stunden wurde Barbara mit Hilfe eines Kollegen in einer Hängematte gelagert. Die Therapeutin bewegte die Hängematte und begleitete das Schaukeln mit einem Lied. Die Intensität der Bewegung richtete sich nach Barbaras körperlichem und emotionalem Ausdruck. Während Barbara zunächst weiter angespannt blieb, entspannten sich ihre Mimik und ihr Körper mit zunehmender Intensität der Schaukelbewegung, bis sie schließlich ruhig und entspannt das Bewegt-Werden zu genießen schien. 

Bei Menschen mit Behinderungen gibt es eine hohe Prävalenz von stereotypen oder selbststimulierenden Verhaltensweisen (Hettinger 1996). Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie zeigen jedoch, dass Aufmerksamkeit und Interaktion nur dann möglich werden, wenn Affekte ausreichend reguliert sind (Als 1986). Daher ist die Regulation hoher Affekte ein wichtiger Inhalt der Therapie, da hiermit die Basis für Kontakt geschaffen werden kann. In der Musiktherapie gibt es hierfür verschiedene Interventionsmöglichkeiten. In einer Untersuchung zur Affektregulation in der Musiktherapie mit Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung (Reimer 2016) zeigte sich, dass das Einbeziehen des Körperempfindens eine wichtige Rolle bei der Regulation von Anspannung und Unruhe sowie bei stereotypen und selbststimulierenden Verhaltensweisen spielt. Bildlich gesprochen: Wenn ein Mensch durch seinen körperlich-emotionalen Ausdruck zeigt, dass er „außer sich“ geraten ist, so entsteht die Frage, wie er/sie unterstützt werden kann, wieder „zu sich“ zu kommen. Dies kann z.B. durch eine Intervention wie oben beschrieben gelingen: Durch das Schaukeln in einer Hängematte – ausgehend vom Körpergewicht und der Körperspannung – kann das Körperempfinden aktiviert werden. Bei anderen Menschen kann das Singen in ihrem Atemrhythmus beruhigend wirken. Durch Berührungen oder Bewegt-Werden ist oftmals zu beobachten, dass stereotype oder selbststimulierende Verhaltensweisen zumindest für die Dauer der Intervention ausbleiben. 

Modus 3 Selbstwirksamkeit

Die Therapeutin legt Mona eine Kantele auf die Oberschenkel. Mona greift, ohne ihren Blick zu dem Instrument zu wenden, in Richtung der Saiten und bringt sie eher zufällig zum Klingen. Die Töne lassen sie aufmerksam werden, sie schaut zu den Saiten und spielt sie erneut an. Sie scheint zu bemerken, dass sie die Urheberin der entstehenden Klänge ist. Die Therapeutin begleitet Monas Spiel auf der Gitarre oder imitiert die von Mona gespielten Töne.

Menschen mit schweren Körperbehinderungen ist es selten möglich, sich selbst als Urheber einer Handlung zu erleben. Durch fehlende Koordination, Spastik, überschießende Bewegungen und weitere Beeinträchtigungen der Bewegungsfähigkeit muss ein schwer körperbehinderter Mensch „in Teilbereichen oder fast vollständig darauf verzichten, seinen Körper als Medium des Erkundens, Erforschens und seiner Neugier zu benutzen, aber auch auf den Körper als Medium der Annäherung und Kommunikation“ (Fröhlich 1998, 59). Wenn minimale Fähigkeiten vorhanden sind, können diese im Alltag selten eingesetzt werden, da es auf Seiten der Bezugspersonen meist sehr viel Zeit erfordert, Impulse abzuwarten und Handlungsmöglichkeiten zu unterstützen. Im Kontext einer Therapie kann das Erkennen und Unterstützen jeglicher Initiativen ein wesentlicher Inhalt sein. Zur Unterstützung des Erlebens von Selbstwirksamkeit hilft der Therapeut bei der Handhabung von Instrumenten. Der vokale oder instrumentale Ausdruck des Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung wird mit ähnlich klingenden Instrumenten imitiert, begleitet und/oder umspielt, um ihm/ihr die eigene Aktivität bewusst zu machen. 

Im Gegensatz zu einem Umgang, bei dem Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung erleben, dass an ihnen oder stellvertretend für sie gehandelt wird, soll hier Raum für eigene Handlungen gegeben werden. Hierbei spielen die Zeit und das (Er-)warten möglicher Äußerungen eine wesentliche Rolle. In seiner Musik lässt der Therapeut genügend Freiraum, gleichzeitig bietet er aber auch einen musikalischen Rahmen, in dem keine spannungsreichen Pausen entstehen.

Modus 4 Intersubjektivität

Axel, ein junger Mann ohne Körperbehinderungen, hat seine erste Musiktherapiestunde. Im Raum angekommen, geht er sofort auf einen großen Gong zu und greift nach dem Schlägel. Bevor er aber den ersten Ton spielt, dreht er sich zur Therapeutin um und blickt sie fragend an. Erst, als sie ermunternd nickt und sagt, er könne gerne die Instrumente ausprobieren, beginnt Axel auf dem Gong zu spielen. Die Therapeutin begleitet ihn mit ihrem Klavierspiel und es kommt immer wieder zu einem Blickaustausch.

Der wiederkehrende Blickwechsel zwischen Axel und der Therapeutin dient dem Austausch von Empfindungen, die das gemeinsame Spiel begleiten. Auch der Blick vor Beginn des Spiels hat eine rückversichernde Qualität. Durch diesen interpersonellen Blickkontakt wird der Therapeut/die Therapeutin als Person mit eigenen Empfindungen wahrgenommen und seine/ihre Emotionen sind für den Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung von Bedeutung. Ist die Fähigkeit zur Intersubjektivität entwickelt, so ist es auch möglich, die Aufmerksamkeit gemeinsam auf etwas zu richten, wie z.B. auf das Musizieren. Schwer körperbehinderte Menschen, die nicht selbstständig auf Instrumenten spielen können, zeigen deutlich ihr Interesse am Spiel des Therapeuten/der Therapeutin und reagieren auf ihn/sie.

Ein weiteres wichtiges Merkmal ist die Fähigkeit, Pausen zu machen, um das Erlebte zu verarbeiten. Das Bedürfnis nach einer Pause zeigt sich z.B. durch das Abwenden des Blickes. Es ist wichtig, dass der Therapeut/die Therapeutin darauf reagiert und nicht sofort erneut den Kontakt sucht, da dies zu einer Überforderung führen kann. Hier – wie auch bei allen anderen musiktherapeutischen Interventionen – achtet der Therapeut/die Therapeutin auf den körperlichen und emotionalen Ausdruck des Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung und reagiert entsprechend.

Modus 5 Interaktivität

Zu Beginn der Stunde begrüßen sich Mira und die Therapeutin mit einem Lied. Die Therapeutin singt: „Hallo Mira, guten Tag!“. Mira stimmt sich rhythmisch auf die von der Therapeutin gespielte Gitarrenbegleitung ab und antwortet singend auf das Begrüßungslied: „Hallo Silke, guten Tag!“ 

Der Begriff Interaktivität umfasst die Fähigkeit, sowohl eigene Spielideen einzubringen als auch die des Therapeuten/der Therapeutin aufzugreifen und diese zu imitieren oder miteinander zu dialogisieren. Der Begriff Dialog bedeutet in diesem Zusammenhang, dass zwei Menschen Motive gegenseitig voneinander aufgreifen und jeweils mit eigenen Ideen darauf antworten. Bei Menschen mit schweren Behinderungen hängt es sowohl von der emotionalen Entwicklung als auch von den körperlichen Fähigkeiten ab, ob diese Fähigkeit entwickelt werden kann. Da Körperbehinderungen die Möglichkeit zum Instrumentalspiel stark beeinträchtigen, ist dialogisches Instrumentalspiel selten, während beim Singen durchaus eine dialogische Fähigkeit entwickelt sein kann, wie das Beispiel von Mira zeigt.

Modus 6 Interaffektivität

Mara und die Therapeutin spielen ein improvisiertes Lied auf dem Xylophon (Mara) und der Gitarre (Therapeutin). Plötzlich macht sich ein verschmitztes Lächeln auf Maras Gesicht breit. Sie holt mit ihrem Xylophonschlägel aus und unterbricht mit einen lauten Xylophonschlag die Musik. Dies kennzeichnet den Beginn eines Rollenspiels, das Mara auch in früheren Musiktherapiestunden schon initiiert hat: Im Musiktherapieraum sind Heinzelmännchen, die sich auf den Instrumenten austoben! Damit sie über das Wochenende keinen Schaden anrichten, müssen sie aus dem Raum vertrieben werden. Dazu hat Mara schon einen Plan: Sie möchte mit der Therapeutin lautstark trommeln, damit die Heinzelmännchen verjagt werden. Es entsteht ein gemeinsames Trommelspiel, bei dem sich Maras Freude deutlich in ihrer Mimik zeigt und sie immer wieder die Therapeutin anschaut, um mit ihr diese Freude zu teilen. 

Man spricht vonInteraffektivität, wenn Therapeut und Patient nicht nur miteinander interagieren, sondern auch ein affektiver Austausch entsteht, in dem meist Freude das vorrangige Gefühl ist. Dies wird vor allem in der Dynamik des Spiels hörbar und in Mimik und Blickaustausch sichtbar. Es können Rollenspiele entstehen, in denen wichtige Themen eines Menschen Raum finden, die dann im musikalischen und szenischen Spiel mit neuen Erfahrungen gefüllt werden. 

Zusammenfassung

In den vorangegangenen Abschnitten wurden Beispiele aufgeführt, die zeigen, dass Kontakt und Begegnung in der Musiktherapie mit Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung möglich ist, auch wenn die zwischenmenschliche Beziehungsfähigkeit noch nicht entwickelt ist. Besonders, wenn die musiktherapeutische Intervention des gemeinsamen Spielens nicht gelingt, weil ein Mensch nicht nach- oder mitmacht, zu angespannt oder unruhig ist oder in seiner eigenen Welt verhaftet bleibt, ist es hilfreich, die Entwicklungsschichten (Stern 2007) zu kennen, die der intersubjektiven Bezogenheit vorausgehen. Wenn der Therapeut/die Therapeutin die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung erkennt und entsprechend interveniert, kann Neues erfahren und Begegnung erlebt werden. 

Literatur

Als, H. (1986): A Synactive Model of Neonatal Behavioral Organization. Framework for the Assessment of Neurobehavioral Development in the Premature Infant and for Support of Infants and Parents in the Neonatal Intensive Care Environment. In: Sweeney, J. (Hrsg.): The high-risk neonate. Developmental therapy perspectives. New York: Haworth Press, 3–55.

Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (2018): Definition – Berufsbild – Geschichte. http://www.musiktherapie.de/musiktherapie/definition.html, aufgerufen am 30.11.2018.

Fröhlich, A. (1998): Basale Stimulation. Das Konzept. Düsseldorf: Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte.

Fröhlich, A. (2010): Communico. In: Grunick, G. & Maier-Michalitsch, N. J. (Hrsg.): Leben pur – Kommunikation bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben, 12–24.

Hettinger, J. (1996): Selbstverletzendes Verhalten, Stereotypien und Kommunikation. Die Förderung der Kommunikation bei Menschen mit geistiger Behinderung oder Autismussyndrom, die selbstverletzendes Verhalten zeigen. Heidelberg: Ed. Schindele. 

Reimer, S. (2011a; 2011b): Vorläufige Anpassung des EBQ-Instrumentes für Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung. Unveröffentlichtes Manuskript.

Reimer, S. (2016): Affektregulation in der der Musiktherapie mit Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung. zeitpunkt musik, Hamburger Schriften zur Musik, Wiesbaden: Reichert. (Rezension S. 76) 

Salmon, S. & Kallós, C. (2010): Zwischen Freiraum und Ritual. Ausdrucksmöglichkeiten mit Musik und Bewegung für Menschen mit Behinderung. DVD-Video. Salzburg: Univ. Mozarteum, Abteilung für Musik- und Tanzpädagogik, Orff-Institut.

Schumacher, K. (1999): Musiktherapie und Säuglingsforschung. Zusammenspiel. Einschätzung der Beziehungsqualität am Beispiel des instrumentalen Ausdrucks eines autistischen Kindes. Frankfurt: Peter Lang. 

Schumacher, K. & Calvet, C. (2001): Die Relevanz entwicklungspsychologischer Erkenntnisse für die Musiktherapie. In: Decker-Voigt, H.-H. (Hrsg.): Schulen der Musiktherapie. München: Reinhardt, 102–124.

Schumacher, K.; Calvet, C. & Reimer, S. (2013): Das EBQ-Instrument und seine entwicklungspsychologischen Grundlagen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Stern, D. N. (2007): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Mit einer neuen Einleitung des Autors. Stuttgart: Klett-Cotta.

 

Silke Reimer, Dr. 

Musiktherapeutin (Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft) und Dipl. Instrumentalpädagogin. Seit 1999 Musiktherapeutin in einem Wohnheim für Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung, 2008 bis 2013 Musiktherapie mit Kindern mit tiefgreifender Entwicklungsstörung. Seit 2008 Dozentin an der Universität der Künste Berlin und Mitarbeit an musiktherapeutischen Forschungsprojekten mit den Schwerpunkten „Entwicklungspsychologisch orientierte Musiktherapie“ und „Affektregulation“.

silke.reimer@berlin.de