Thema der Ausgabe 1/2019:

Person und sozialer Raum

„In der Anerkennung der Eigenart jeder Person, im konkreten Tun, wachsen die Kräfte, die dann stark genug sind, für Menschenwürde und Menschenrechte mutig und offen einzutreten.“ (Josef Fragner)

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Person und sozialer Raum

„Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung“, mahnt der Schriftsteller Michael Köhlmeier. Wir alle stehen täglich vor Weggabelungen und müssen entscheiden, in welche Richtung wir gehen. Aus der Geschichte können wir lernen, welche die falsche Richtung ist: wenn wir moralisch gleichgültig werden, indem wir bestimmten Gruppen ihre persönliche Würde absprechen; wenn die persönliche Verantwortung und jedes Mitgefühl schwinden, weil bestimmte Gruppen unsichtbar und zu scheinbaren Objekten gemacht werden; wenn das Wort Solidarität als Wärmestube denunziert wird, in der sich die letzten sogenannten „Gutmenschen“ zusammenkauern und gegenseitig aufwärmen. 

Aber wo sind die Schritte in Richtung Anerkennung jedes einzelnen Menschen? Wodurch wird Mitmenschlichkeit gestärkt? Die Steigerung moralischer Appelle reicht dabei kaum aus. Im konkreten Tun, in der Nähe zum anderen wachsen die Kräfte, die dann stark genug sind, für Menschenwürde und Menschenrechte mutig und offen einzutreten.

Marlis Pörtner plädiert für eine Arbeitsweise, die jede Person in ihrer Eigenart ernst nimmt und sie konkret unterstützt, ihre eigenen Wege zu gehen. Da entsteht persönliche und moralische Verantwortung, weil der Einzelne als einzigartig gesehen wird. Gegen das Verschwinden behinderter Menschen aus dem öffentlichen Raum stemmt sich Wolfgang Hinte mit seinem Konzept der Sozialraumorientierung. Heinz Becker setzt sich für die Öffnung der „verschlossenen Weltenì ein, um diese Menschen wieder sicht- und wahrnehmbar zu machen. Das ruft nach Veränderung der herkömmlichen Organisationen. Diese analysieren Oliver Koenig und Thomas Schweinschwaller genauer und geben Anregungen für eine Weiterentwicklung. Für Peter Groß sind Respekt, Partizipation, aber auch Schutz die zentralen Kriterien für eine personenorientierte Gestaltung helfender Beziehung im Gemeinwesen.

Erwin Riess befürchtet einen großen Schritt beim Thema Euthanasie. Fremdbestimmung versus Selbstbestimmung laute der Konflikt. Ries analysiert glasklar, dass jeder Mensch auf den anderen angewiesen ist: „Angstfrei anders sein zu können, ist etwas anderes, als bis ins Letzte selbstbestimmt zu sein.“ Unter denjenigen, die nahe bei den Menschen sind, etwa die behandelnden Ärzte, findet sich keiner, der nach „vorzeitiger Verkürzung“ des Lebens ruft.

Unter der glatten Stilfassade, die mit politischer Korrektheit poliert ist, breitet sich der „Jargon der Verachtung“ gegen über schwachen Gruppen der Gesellschaft aus, verbunden mit dem Duktus der eigenen Überlegenheit. Der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer spricht von „roher Bürgerlichkeitì. Rohe Bürgerlichkeit setzt auf Konkurrenz und Eigenverantwortung in jeder Hinsicht. Wer dem nicht gewachsen ist, dem ist nicht zu helfen und dem soll auch nicht geholfen werden. Zwischen der Forderung an die sozial Schwachen, ihre kritische Lebenssituation selbst zu bewältigen, und deren öffentlicher Abwertung gibt es eindeutige empirische Zusammenhänge. Der rohen Bürgerlichkeit entgeht vielfach das Gefühl für verschiedene Formen von Fairness und Solidarität. 

Was hält dann eine Gesellschaft zusammen? Solidarisches Verhalten entsteht nicht automatisch durch rechtliche Absicherung, sondern in gemeinsamem Tun, in dem jeder die Chance erhält, ohne kollektive Abstufungen, sich in seinen eigenen Leistungen und Fähigkeiten als wertvoll zu erfahren. 

 

Leseproben:

Eine Mutter umarmt ihr Kind. Beide sitzen in einem farbigen und lichtdurchtränkten Raum und sind sichtlich beeindruckt.
Eine Mutter umarmt ihr Kind. Beide sitzen in einem farbigen und lichtdurchtränkten Raum und sind sichtlich beeindruckt.
Anderswo
Oliver Schulz

Ein Vergnügungspark für alle Sinne

Der Themenpark De Belevenis im niederländischen Arnheim ist genau das Richtige für Menschen mit Behinderung oder Demenz, aber auch für schwerkranke Kinder. Sie können hier mit allen Sinnen genießen und sich nach Herzenslust austoben, fühlen, hören und sehen.

Willi sitzt vor einer großen Trommel und bearbeitet diese lustvoll mit zwei Schlägeln, seine Mutter lacht im Hintergrund.
Willi sitzt vor einer großen Trommel und bearbeitet diese lustvoll mit zwei Schlägeln, seine Mutter lacht im Hintergrund.
Willis Insiderwissen
Birte Müller

Teilhabe oder Ganzhabe?

Im letzten Jahr ging der Fall der 14 Jahre alten Hannah Kiesbye durch die Medien: Sie hatte keine Lust mehr, einen Schwerbehindertenausweis vorzeigen zu müssen. Sie wollte stattdessen lieber einen Schwer-in-Ordnung-Ausweis.

Farbenkräftige Landschaft mit zwei Figuren: Die kleinere Figur blickt den Betrachter an, die zweite ist von hinten zu sehen.
Porträtfoto von Professor Dr. Wolfgang Hinte, dem „Vater“ des Konzepts Sozialraumorientierung.
Fachthema
Wolfgang Hinte

Sozialraumorientierung – ein Fachkonzept für die Behindertenhilfe

„Sozialraumorientierung“ wird im Fachdiskurs mittlerweile nahezu beliebig für alle möglichen Debatten und Aktivitäten herangezogen, die sich in irgendeiner Weise auf Wohnquartiere, Stadtteile oder „Sozialräume“ beziehen. Dabei steht häufig der territoriale Aspekt im Vordergrund, was regelmäßig zu Verkürzungen führt, die nahelegen, dass es bei der Sozialraumorientierung um Regionalisierungsprozesse, die Ablösung professioneller Tätigkeit durch ehrenamtliche Personen aus dem Quartier oder um eine verbesserte Kooperation verschiedener Einrichtungsträger ginge. Tatsächlich jedoch handelt es sich bei dem Fachkonzept Sozialraumorientierung um ein über viele Jahre hinweg in enger Verzahnung von Theorie und Praxis entwickeltes, in der Tradition der Gemeinwesenarbeit stehendes Konzept für Soziale Arbeit, das zunächst in der Jugendhilfe entwickelt wurde und im Rahmen der Inklusionsdebatte in der Behindertenhilfe enorme Aufmerksamkeit erfährt (dazu Theunissen 2012; Krammer 2017).

Eine Frau – sie hat MS – wird aus dem Auto gehoben. Ihre rechte grazile Hand hält sich an der Schulter einer anderen Frau fest.
Eine Frau – sie hat MS – wird aus dem Auto gehoben. Ihre rechte grazile Hand hält sich an der Schulter einer anderen Frau fest.
Fotoessay
Sina Niemeyer

Mama hat MS

2006 hat Konny Hoffmann die Diagnose Multiple Sklerose erhalten. Zwei Jahre lang begleitete die Fotografin Sina Niemeyer die mittlerweile 52-Jährige und ihre Tochter Lea, 26. – entstanden sind berührende Fotos.

Zwölf Menschen – einer im Rollstuhl, einer mit Trisomie 21 – sitzen im Halbkreis in der Wiese und genießen ihr Zusammensein.
Zwölf Menschen – einer im Rollstuhl, einer mit Trisomie 21 – sitzen im Halbkreis in der Wiese und genießen ihr Zusammensein.
Sozialraumprojekt in Österreich
Waltraud Engl

„Ich mach mir die Welt, so wie sie mir gefällt!“

Das Projekt P.I.L.O.T. – Begleitung für junge Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf

Kleinteilige, farbige Flächen, die sich aus baumartigen, spitzen und runden Formen zusammensetzen.
Porträtfoto von Marlis Pörtner.
Fachthema
Marlis Pörtner

Die personzentrierte Arbeitsweise

Die personzentrierte Arbeitsweise, die ich in meinen Büchern beschrieben habe, ist ganz auf die praktische Arbeit im Alltag sozialer Institutionen zugeschnitten: Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung, für alte und pflegebedürftige Menschen, psychiatrische Kliniken, usw. – also im weitesten Sinne für Menschen, die in irgendeiner Form Betreuung brauchen. Es vermittelt den Mitarbeiterinnen konkrete Handhaben, wie sie mit den ihnen anvertrauten Menschen, vor allem auch solchen mit geistiger Behinderung, personzentriert arbeiten können.

Inhalt:

Artikel
Die personzentrierte Arbeitsweise
Sozialraumorientierung – ein Fachkonzept für die Behindertenhilfe
Die Öffnung der „verschlossenen Welten“
Personenzentriertes Arbeiten und Organisationen der Behindertenhilfe: (Wie) geht das zusammen?
Respekt, Partizipation und Schutz
„Ich mach mir die Welt, so wie sie mir gefällt!“
Qplus: Der Wille bewegt
Martinschule: Inklusion umgekehrt
Teilhabe oder Ganzhabe?
Was heißt: aus der Geschichte lernen?
Kindesabnahmen wegen Behinderungen der Eltern
Rollstuhlfahren soll künftig weniger anstrengen
Mama hat MS
Vom Sterben der anderen. Euthanasie in Europa und Österreich
Würdevolles Leben bis zuletzt
Breite Kritik am Entwurf zum Sozialhilfe-Grundgesetz
„Wir gehen oft eine Extrameile“
Ein Vergnügungspark für alle Sinne
Ein Pionier tritt jetzt leiser
Barrierefrei einkaufen in Wien bleibt ein Wunsch
Ruhe ins Spiel bringen
Ausgezeichnete Behindertensportler
Online-Handbuch „Inklusion als Menschenrecht“
Inklusion in Kultur und Medien
Rollenklischees in Medien
Berlinale 2019: Behinderung in Filmen
À bientôt Le petit fils
Athen, Kongresszentrum
Das Spucken