Angelina sitzt im Rollstuhl. Ein Mann stupst sie an der Nase. Ihre Mutter und eine Sozialarbeiterin verfolgen die Szene.

Sozialarbeiterin Rose Namala und NGO-Gründer Stefan Pleger beim wöchentlichen Hausbesuch. Die 20-jährige Angelina sitzt im Rollstuhl, den ihr „Kindern eine Chance“ zur Verfügung stellt. Die Mutter nimmt die früher aus Scham versteckt gehaltene Tochter mittlerweile darin mit zur Kirche.

Foto: Steffen Arora
aus Heft 6/2018 – Uganda
Steffen Arora

Behindert in Uganda: Überleben als Erfolgsprojekt

Die Tiroler Organisation „Kindern eine Chance“ leistet in Ostafrika Pionierarbeit in der Behindertenarbeit. Die Idee dazu wurde aus der schieren Not heraus geboren.

„Denk jetzt nicht europäisch“, warnt Stefan Pleger, bevor er die fensterlose, von Unrat übersäte Lehmhütte betritt. Am Boden kauert ein Mädchen, das eigentlich eine junge Frau ist. Sie ist allein und trägt nichts als ein zerschlissenes, verdrecktes T-Shirt am Leib. Ihr Name ist Angelina und ihr kindliches Gesicht verrät nicht, dass sie bereits 20 Jahre alt ist. Ihr verkümmerter, von spastischer Lähmung geplagter Körper ist ausgemergelt. Doch ihre Augen strahlen, als sie Pleger und seine Kollegin, die Sozialarbeiterin Rose Namala, erblickt. Sie streckt den beiden ihre Hand entgegen. Pleger nimmt und streichelt sie sanft. Angelina schmiegt ihren Kopf an seine Schulter und genießt die ungewohnte Zärtlichkeit.

Die Szene schnürt einem die Kehle zu. Als Außenstehender ist man vom Dreck und Gestank überwältigt. Doch Pleger strahlt und spricht von einem beispielhaften Erfolg. Angelina ist eines von rund 300 Kindern mit Behinderung, die seine Hilfsorganisation „Kindern eine Chance“ (KEC) im Rahmen ihres so genannten Outreach-Programmes im ländlichen Uganda betreut. Seit über zehn Jahren engagiert sich die größte, rein ehrenamtliche NGO Österreichs, die zuletzt ein jährliches Spendenvolumen von 1,2 Millionen Euro verzeichnete, hier in Ostafrika für benachteiligte Kinder. Was als kleines Hilfsprogramm für Aids-Waisen begonnen hat, ist heute eine 200-Mitarbeiter-Organisation, die im Bildungssektor sogar für den schwächelnden und von Korruption geplagten Staat einspringt. Eine ganz besondere Sparte ist die Behindertenarbeit, zu der KEC eigentlich nur durch Zufall gekommen ist.

„Wir wachsen an unseren Herausforderungen“, beschreibt Pleger den Werdegang seiner 2008 gegründeten Organisation. Hauptaugenmerk liegt am Bildungssektor – fast 20.000 Kindern wird in den Bezirken Mityana und Mubende der Schulbesuch ermöglicht; teils in eigenen Einrichtungen, teils indem man für die Verpflegung mit warmem Essen in staatlichen Schulen sorgt. Die Armut ist hier draußen, im ländlichen Uganda, das größte Problem. Durchschnittlich hat jede Familie sechs Kinder. Meist kämpft die Mutter allein um deren Überleben, die Väter stehlen sich davon. Unter solchen Extrembedingungen gelten extreme gesellschaftliche Normen. 

Behinderung als Schande

Zum Beispiel, was Kinder mit Behinderung anbelangt. Sie gelten als Belastung für ihre Familien und nicht selten als Schande, die man versteckt. So fristen diese Kinder ein Dasein in unvorstellbarem Elend und Ausgrenzung. Sie werden wie Tiere oder noch schlimmer behandelt.

Auch Angelina war bis vor kurzem noch ein solches Paria-Schicksal beschieden. „Als wir sie zum ersten Mal besucht haben, war sie allein und nackt an einem Pflock hinter der Hütte angebunden, während die Familie am Feld arbeitete“, erzählt Sozialarbeiterin Namala. Ein Mitglied der Dorfgemeinschaft hatte die NGO informiert. Es bedurfte langwieriger Überzeugungsarbeit, bis die Mutter erkannte, dass ihre Tochter ein Lebewesen mit Gefühlen ist, das ihre Zuwendung braucht. Angelina lebt mit mehreren Geschwistern und der Mutter in einer winzigen Hütte. Der Vater hat sie im Stich gelassen. Weil sie nicht am Feld mithelfen kann, ist die junge Frau nichts als eine Belastung für die Familie.

Es gibt noch viel schlimmere Schicksale. Gerald zum Beispiel, den das Team 2015 halbtot gefunden hat. Der damals 13-jährige schwer behinderte Bub wog nur mehr neun Kilo und lag hinter der Hütte seiner Familie. Dort hatte man ihn zum Sterben gelegt. Maden hatten bereits damit begonnen, seinen Körper aufzufressen, wie Fotos zeigen, die Plegers Team gemacht hat, als sie ihn fanden. Überlebt hat der Junge nur, weil seine Schwester ihn so liebgewonnen hatte, dass sie ihm heimlich Rationen ihres Maisbreis fütterte und ihn mit Wasser versorgte. 

KEC hat beide Geschwister mitgenommen. Die Familie begrüßte diesen Schritt als Erleichterung. Heute lebt Gerald in einer der beiden Sonderschulen, die KEC in Zigoti betreibt. Aus dem halbtoten Kind wurde ein aufgeweckter Schüler, der im Rollstuhl sitzt und mit den Therapeuten auf der Terrasse spielerisch seine Koordinationsfähigkeit übt. 

Outreach-Programm

Doch die Plätze in den beiden Sonderschulen sind begrenzt. Daher rief KEC das Outreach-Programm ins Leben, um den enormen Bedarf an Hilfe für behinderte Kinder zumindest ansatzweise abzudecken. Auf Motorrädern durchkämmen Sozialarbeiter und Physiotherapeuten Tag für Tag das unwegsame Hinterland, wo es keine Straßen, sondern nur mehr kleine Pfade gibt. Sie fahren zu den Familien und treffen Abmachungen: denn Hilfe gibt es nur für Gegenleistung. „Wir wollen vermeiden, dass es zu einer Handaufhalten-Mentalität kommt. Das würde bloß die Lethargie fördern, die hier ob der Perspektivlosigkeit ohnehin allgegenwärtig ist“, erklärt Pleger. Nur in Extremfällen, wenn wie bei Gerald Gefahr in Verzug ist, weicht man von diesem Grundsatz ab. 

Im Fall von Angelina lautete der Deal: Die Mutter lernt, ihre behinderte Tochter als Mensch zu akzeptieren und zu behandeln. Im Gegenzug erhielt sie einen Rollstuhl für Angelina und regelmäßigen Besuch von Therapeuten. „Früher hat sie die Tochter aus Scham zu Hause versteckt. Heute nimmt sie Angelina jeden Sonntag im Rollstuhl mit zur Kirche. Das ist ein unglaublicher Fortschritt“, betont Sozialarbeiterin Namala.

Im Fall von Gerald war eine Betreuung zu Hause nicht möglich, daher kam er in eine der beiden Sonderschulen, die nach ihrem ersten Geldgeber Christoph Bettermann benannt ist. In diesen Einrichtungen in Zigoti erhalten derzeit 150 Kinder mit Behinderung ein Zuhause und entsprechende Unterstützung. In Kürze eröffnet die dritte Sonderschule der NGO mit Platz für weitere 100 Kinder im Nachbarbezirk. Daneben haben Pleger und sein Team noch eine Schule für knapp 100 gehörlose Kinder errichtet, die sie in Tanda betreiben. „In Europa kämpfen wir für die Abschaffung der Sonderschulen, hier sind sie ein Quantensprung für die Betroffenen“, erklärt Pleger die beiden Welten. 

Schritte für ein Miteinander

Bildungs- und Betreuungseinrichtungen für behinderte Kinder sind in Uganda eine Neuheit. KEC leistet Aufbauarbeit unter extremen Bedingungen, die von den Einheimischen mit Argusaugen verfolgt wird. Denn viele sehen es skeptisch, dass ausgerechnet behinderte Menschen so viel Hilfe erhalten. Um diese Barrieren in den Köpfen abzubauen, richtet KEC einen Fokus auf Integrationsmaßnahmen. So werden in der neuen Schule in Nateete erstmals nicht behinderte und behinderte Kinder gemeinsam auf einem Areal untergebracht. Auch Schulinklusion wird bereits versucht. Mehr als ein Dutzend behinderter Kinder haben dank Therapie derartige Fortschritte gemacht, dass sie nun in Regelschulen der NGO zusammen mit nicht behinderten Kindern unterrichtet werden.

Daneben hat die NGO teils subtile Methoden erdacht, um der Ausgrenzung behinderter Menschen entgegenzuwirken. Neben den Schulprogrammen hat KEC auch ein so genanntes Borehole-Projekt ins Leben gerufen. Weil sauberes Trinkwasser in Uganda Mangelware ist, lernen die nicht behinderten Kinder, wie man in Eigenregie Wasserlöcher bohrt und Leitungen verlegt. Diese Trinkwasserbrunnen werden der jeweiligen Dorfgemeinschaft kostenlos zur Verfügung gestellt. In Zigoti wurde als Standort dafür der Campus der Sonderschule gewählt. Um frisches Trinkwasser zu erhalten, müssen sich die Dorfbewohner nun täglich den Kindern in der Behinderteneinrichtung stellen. So werden Ängste und Vorurteile langsam abgebaut. 

In den Sonderschulen selbst sorgt ein Team aus Pädagogen und Therapeuten für die Kinder. Ziel ist es, ihre Selbstständigkeit zu fördern. „Wir üben einfachste Tätigkeiten mit ihnen, wie Hilfsarbeiten für die Ernte“, erklärt Physiotherapeut Stephen Okiror. Im Idealfall können die Kinder so zu ihren Familien zurückkehren und eine Aufgabe übernehmen. Sie werden dadurch zu nützlichen Mitgliedern der Gemeinschaft und nicht mehr bloß als Belastung gesehen.

Zurück zur Mobilität

Der erste Therapieschritt besteht darin, die Mobilität der Kinder nach Möglichkeit wiederherzustellen. Denn oft ist es schwer zu erkennen, welche Beeinträchtigung die Kinder tatsächlich haben und was Folge ihrer Vernachlässigung ist. Ein solcher Fall war die acht Jahre alte Selevia. Das kleine Mädchen mit den Rastazöpfen, das mit spastischer Tetraparese lebt, kauerte jahrelang verwahrlost am Boden einer dunklen Hütte. Zudem ist sie HIV-positiv, ein zusätzliches Stigma in Uganda. Wo sie sich angesteckt hat, weiß niemand. Nicht selten werden behinderte Kinder Opfer sexueller Gewalt, da sie sich weder wehren noch mitteilen können. 

Welchen Unterschied fachgerechte Hilfe bewirken kann, zeigt das Beispiel des kleinen Mädchens. „Sie fährt nun schon allein Im Rollstuhl durch die Schule, kann selbst essen und ihre Morgentoilette großteils selbstständig erledigen“, erklärt Okiror. Er ist sichtlich stolz auf seine kleine Patientin. Sie dankt ihm die Zuwendung mit dem herzerwärmendsten Lächeln, das man sich überhaupt vorstellen kann, während der 31-Jährige bei der morgendlichen Therapiesitzung vorsichtig ihren zerbrechlichen kleinen Körper bewegt. Jeden Tag schafft Selevia einen weiteren Fortschritt. Man sieht ihr an, dass die Übungen auf der Turnmatte nicht einfach sind und an ihre Schmerzgrenze gehen. Dennoch lächelt sie tapfer. 

Nach der Therapiestunde manövriert die Kleine ihren Rollstuhl in den Garten. Dort haben die nicht behinderten Schüler der NGO einen kleinen Spielplatz aufgebaut. „Die älteren Jugendlichen haben die erste Rutsche des ganzen Bezirkes in unserer Schlosserwerkstatt zusammengeschweißt“, sagt Pleger stolz. Nun spielen hier behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam auf dem neuen Spielgerät. Berührungsängste werden weggelacht, man kommt sich näher. 

KEC leistet Pionierarbeit

Rund 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt KEC heute in Uganda. Es sind allesamt Einheimische, die zu ortsüblichen Löhnen angestellt werden. Die 15 Österreicher, die für die Spendenakquirierung in Europa sorgen, tun dies allesamt ehrenamtlich und in ihrer Freizeit. Als Geschäftsführerin der NGO agiert Betty Nabulimu. Die 30-Jährige war selbst eines der ersten Kinder, die von KEC beim Schulbesuch unterstützt wurden. Auffallend viele ehemalige Betreute sind heute selbst für die Organisation tätig. Pleger und seine Lebensgefährtin Gabi Ziller, die KEC vor zehn Jahren gegründet haben, sind mehrmals pro Jahr in Uganda vor Ort, aber auch sie unterstützen die NGO lediglich ehrenamtlich. „Kein Cent Spendengeld fließt bei uns an Europäer“, erklären sie den Gedanken dahinter.

Um die Kosten niedrig zu halten, versucht KEC so viel wie möglich eigenständig zu produzieren. Auf Hilfslieferungen aus Europa wird verzichtet, man kauft bei lokalen Produzenten. Das Selbstversorgerprinzip beginnt beim Mais für die tägliche Ration Porridge und endet mittlerweile bei den Prothesen. Denn die stellt die NGO mit Hilfe eines ausgedienten Pizzaofens ebenfalls selbst her. Pleger und einige Jugendliche haben eine hausinterne Orthesen-Werkstatt aufgebaut. „Viele Kinder haben Missbildungen der Extremitäten. In Europa wird so etwas im Säuglingsalter korrigiert. Hier bleibt es oft unbehandelt und wird zum riesigen Problem“, erklärt der Physiotherapeut Okiror. 

In diesem Zusammenhang bewies der NGO-Gründer Pleger, der seit Mitte der 1990er für Organisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ in Ostafrika war, einmal mehr, wie man aus der Not eine Tugend macht. Denn neben der Armut ist der Müll ein großes Problem in Uganda. Egal in welchem abgelegenen Teil des Landes man sich befindet, allerorts stößt man auf Plastikmüll. Zugleich war das bislang größte Problem bei der Herstellung eigener Orthesen, dass die Plastikplatten, die dazu als Rohstoff dienen, sehr teuer zugekauft werden mussten. Im Sommer hatte Pleger die Idee, die überall herumliegenden Plastikdeckel diverser Softdrink-Flaschen einzusammeln. Die Kinder in den Sonderschulen waschen diese und sortieren sie nach Farben, was eine praktische motorische Übung für sie darstellt. Danach werden die Flaschen eingeschmolzen und als kostenloser Rohstoff zur Orthesen-Herstellung genutzt. 

Entwicklungshilfe als Branche?

Es sind Ideen wie diese, die KEC immer wieder vorwärts bringen, auch wenn die Ressourcen überschaubar sind. Die NGO will nicht schnelle Hilfe bieten, sondern nachhaltige Veränderung fördern. Das kommt nicht überall gut an. Denn Pleger eckt mit seinem Zugang vor allem bei anderen NGOs an. So nimmt er sich kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, die Entwicklungshilfe als Branche – und damit auch seine eigene Organisation – kritisch zu hinterfragen. Hilfe dürfe nicht zum Geschäft oder Selbstzweck werden, ist er überzeugt. 

Im Brotberuf arbeitet Pleger heute für die österreichische RED CHAIRity-Stiftung eines Möbelherstellers und ist dort für die Kontrolle der ausgeschütteten Hilfsgelder zuständig. Eine Funktion, die ihm viele Neider beschert. Er antwortet mit Transparenz darauf. KEC erhält ebenfalls eine Zuwendung von seinem Arbeitgeber. Allerdings war der Chef der Stiftung selbst in Uganda vor Ort und hat sich vorab von der Sinnhaftigkeit dieser Unterstützung überzeugt.

Kinder wie Angelina, Gerald und Selevia kümmern derlei Diskussionen nicht. Sie brauchen Hilfe, um zu überleben. Das Team von KEC lässt ihnen diese zuteilwerden.

 

Info und Spenden: www.kinderneinechance.at