Nahaufnahme von Händen, die an einem Kontrabass die Saiten zupfen. Foto: Oliver M. Reuter

Aufnahmen aus der Arbeit mit Jugendlichen in ästhetischen Bildungsprojekten.

Foto: Oliver M. Reuter
aus Heft 4/5/2018 – Forschung
Oliver M. Reuter, Roland Stein, Tanja Wilkeneit, Sabine Wolz

Chancen der ästhetischen Bildung: Gegen die Biografie des Scheiterns

Im Forschungsprojekt WaeBi untersucht die Universität Würzburg Gelingensbedingungen und Wirkungen ästhetischer Bildung für Jugendliche in sozial schwierigen Situationen. Hierzu werden bundesweit Projekte besucht, die sich mit den Mitteln der ästhetischen Bildung um Jugendliche kümmern.

Um den Musiker und Pädagogen Harald Rüschenbaum herum stehen Jugendliche und spielen auf Cajones, Congas und weiteren Rhythmusinstrumenten. Am Vormittag noch trainierten sie Hip Hop Moves mit einem Tanzpädagogen. Im Raum nebenan malt eine weitere Gruppe, während sich andere Jugendliche im theatralen Improvisieren üben. Draußen entwickeln einige Heranwachsende Szenen auf Stelzen. 

Dem Betrachter bietet sich ein bunter Einblick in die Bandbreite ästhetischer Praxis. Die Jugendlichen, die hier musizieren, tanzen, Theater spielen, malen, zeichnen, plastizieren, nehmen teil an einem Sommercamp, das der Verein „Menschen im Aufwind“ für Kinder und Jugendliche in sozial schwierigen Konstellationen veranstaltet. Für einige Tage bestimmen Workshops aus dem Bereich der ästhetischen Praxis den Tagesablauf. Im Zentrum stehen individuelle Erfahrungschancen, die dem Improvisieren, dem rhythmischen Interpretieren, dem Experimentieren mit Farben, dem Malen innewohnen. Wie lassen sich Worte unterschiedlich artikulieren? Welche Möglichkeiten der Bewegung besitzt mein Körper? Wo lerne ich mich neu kennen und kann mich in anderen Rollen ausprobieren? Welche Grenzen setze ich für mich, an welchen Positionen kann ich über mich hinausgehen? 

Viele der Jugendlichen werden in der Folge an weiteren gemeinsamen Aktivitäten des Vereins teilnehmen. Sie werden Museen und Konzerte besuchen oder als Stipendiaten kontinuierliche Förderung in einer Malwerkstatt oder Theaterschule erhalten.

 

In einer Schule in Nordrhein-Westfalen zeigt sich ein ganz ähnliches Bild: In einem der Klassenräume probieren sich Jugendliche in unterschiedlichen Rollen an ihrem Schauspiel, während in der großen Schulaula passende Stücke für das gemeinsame Projekt eingesungen werden und die Turnhalle derweil zum Ort für die Tänzer wird. Parallel dazu entwirft eine weitere Kleingruppe aus Schülern das Bühnenbild und arbeitet an Flyern für die anstehenden Aufführungen. Die teilnehmenden Jugendlichen werden in ihrem Tun von professionellen Musicaldarstellern, Sängern, Tänzern und Bühnenbildnern begleitet. Zuvor haben sie sich mehrere Wochen in allen angebotenen Bereichen ausprobiert, um am Ende der Einführungszeit die Entscheidung treffen zu können, in welchem Bereich der ästhetischen Praxis sie innerhalb des Schuljahres weiterarbeiten wollen. Am Ende des Schuljahres wird es mehrere Musicalvorstellungen geben, in denen alle Jugendlichen gemeinsam vor interessierten Besuchern auftreten.

Für dieses Projekt arbeitet die Schule mit einem Verein zusammen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kunst und Kultur stärker in Schulen zu bringen und dort zu fördern. Einmal wöchentlich kommen die professionellen Künstler in die Schule, um mit den Jugendlichen am gemeinsamen Vorhaben zu arbeiten. Im Vordergrund stehen dabei die Jugendlichen und die Frage danach, wie sie sich in ihren Vorstellungen und Möglichkeiten in das Vorhaben einbringen können.

Positives Selbstbild

Initiativen wie die beiden kurz vorgestellten gibt es im gesamten Bundesgebiet. Sie kümmern sich mit den Mitteln ästhetischer Bildung um Kinder und Jugendliche, die sich in einer schwierigen Situation befinden und ermöglichen ihnen so einen sonst verwehrten Zugang zu ästhetischer Bildung. Schwierige soziale Konstellationen können vielfältige Ursachen wie Armut, Migration, Vernachlässigung haben, führen aber in der Konsequenz oft zu Benachteiligungen in Bereichen der Bildung (vgl. Chassé 2010). Insbesondere der Zugang zur ästhetischen Bildung ist oft gänzlich verschlossen. Dieser Bildungsbereich wird überwiegend über außerschulische und somit kostenpflichtige Angebote abgedeckt und bedarf zudem der Eigeninitiative. Privat initiierte Projekte versuchen, dieser Schieflage zu begegnen und Kinder und Jugendliche aus der Transitzone am Rande der Gesellschaft zu holen und ihnen einen Platz in der Gemeinschaft zu sichern (vgl. Reuter 2017). Sie gehen davon aus, dass über den Zugang zu ästhetischer Bildung das Selbstbild, das zuvor oft von einer Biografie des Scheiterns geprägt ist, zum Positiven verändert werden kann. Gelungene Lernerfahrungen und spezifische Kommunikationsformen, die ästhetische Bildungsprozesse ausmachen, sollen eine alternative Selbstverortung gewährleisten. Rezeptionen von Bildender Kunst, von Musikstücken oder von Theaterproduktionen sollen im Dialog mit den Werken zu einer ausprobierenden Positionierung zur Welt führen.

Vielfältige Praxisprojekte

Die an der Universität Würzburg angesiedelte Forschungsstelle WaeBi begleitet bundesweit Praxisprojekte wie die dargestellten, um die Wirkungen sowie die entsprechenden Bedingungen ästhetischer Bildungsprozesse in Projekten für Jugendliche in sozial schwierigen Situationen wissenschaftlich zu untersuchen. Innerhalb der Forschungsstelle arbeitet der Lehrstuhl für Sonderpädagogik V – Pädagogik bei Verhaltensstörungen mit der Professur für Kunstpädagogik zusammen. Das Angebot sowie die Konzepte der begleiteten Praxisprojekte sind dabei äußerst vielfältig und verteilen sich auf sämtliche künstlerisch-ästhetische Genres. Allein im Bereich Musik reicht das Spektrum vom Kennenlernen klassischer Geigenstücke bis zum Rapper im Jugendclub. Innerhalb der Bewegung gehen sie vom Breakdance über das Laufen auf Kugeln bis zur freien Bewegung im Raum. In der Bildenden Kunst umfasst das Angebot Malerei wie Zeichnen und Plastizieren, Grafik und Fotografie. Gemein ist den Projekten, dass sie regelmäßig Angebote bereithalten und diese über eine längere Zeit laufen. Die Jugendlichen nehmen teils lange Anfahrtswege und gut ausgefüllte Terminkalender in Kauf, um an den Projekten teilnehmen zu können. 

Was sie während ihres Tuns innerhalb der ästhetischen Praxis beschäftigt, welche Erfahrungen sie machen und welche Veränderungen vielleicht eintreten, interessiert die Forschergruppe. Innerhalb von Interviews mit Experten wie Teilnehmern aus den begleiteten Projekten werden besondere Augenmerke auf Fragen in Zusammenhang mit Kommunikation und sozialer Interaktion sowie auf Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung gelegt. Zudem stellt sich die Frage, inwiefern eine Öffnung von Zugängen zum ästhetischen Feld stattfindet. Die eruierten Bedingungen und Auswirkungen sollen für die konkrete pädagogische Arbeit innerhalb von Praxisprojekten zugänglich gemacht werden.

Literatur

Chassé, K. A. (2010): Kinderarmut in Deutschland. Online unter http://www.bpb.de/apuz/32283/kinderarmut-in-deutschland?p=all [Abruf 01.03.2018].

Reuter, O. M. (2017): Ästhetische Bildung in den Transitzonen der Gesellschaft. In: Loffredo, A. M. (Hrsg.): Transit Kunst/Universität: Grenzgänge fachdidaktischer Diskurse. München: kopaed, 120–127.

 

Informationen: tanja.wilkeneit@uni-wuerzburg.de