Thema der Ausgabe 6/2016:

Die Erzählung des Körpers

Wenn wir versuchen, jeden Menschen in allen Dimensionen aufmerksam zu „lesen“, so entsteht eine Gemeinsamkeit, die es schwerer macht, den Anderen als Gegenteil von mir zu sehen.

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Die Erzählung des Körpers

„Anna ist sehr unruhig. Sie bewegt ihre Arme und ihre Augen von einer Seite zur anderen. Sie weint nun schon seit einigen Stunden und gibt immer wieder laute Schreie von sich … Bevor ich meine Hand sanft und vorsichtig in Höhe ihres Zwerchfells lege, sage ich: ‚Anna, ich lege meine Hand auf deinen Bauch. Wenn du das nicht magst, dann lege ich meine Hand sofort weg.‘ Ich achte auf ihre Reaktionen und schließe selbst die Augen, versammle mich in mir und versuche, einfach jetzt hier zu sein, wo ich bin, so dass sich Stille in mir ausbreiten kann … Es dauert nicht lange und Anna ist mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit bei meiner Berührung … Ich ermögliche durch meine absichtslose Haltung ihr und mir das Betreten eines zwischenleiblichen, intersubjektiven Raumes. Denn meine Haltung ist eine Haltung der Akzeptanz der Intensität der Rhythmen der Strukturen. Es ist eine Haltung, welche an Resonanz interessiert ist, die jedoch Anna ihren Raum, ihre Art der Selbstkontrolle belässt …“

In berührender Weise schildert Ursula Stinkes einen unmittelbaren, lebendigen Weg eines gemeinsamen Wahrnehmens und Erlebens: den „Leibdialog“. Ein Verstehen auf der Ebene der Körpersprache ermöglicht so etwas wie eine „gemeinsame Erzählung“.

Für Patrizia Tolle ist der Dialog, in dem sowohl gesprochen als auch geschwiegen werden darf, dann echt, wenn ein Gegenüber kein Objekt, sondern Partner in einem Lebensvorgang ist. Der Übergang vom Erklären zum Verstehen ist durch den Akt der emotionalen Berührung durch den Anderen gekennzeichnet.

Sören Bauersfeld stellt die Sensumotorische Kooperation in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Das alltägliche Leben stellt dabei vielfältige Herausforderungen. Bei manchen Menschen basiert die gemeinsame Bewältigung vorwiegend auf den tonischen Funktionen von Haut und Muskulatur, nicht auf Wörtern und Begriffen, also auf dem tonischen Dialog. 

Für Barbara Senckel heißt das Zauberwort „Beziehung“. In Beziehung treten bedeutet für sie: Wenn ich mich öffne, sorgfältig und ohne gleich zu urteilen wahrnehme, wenn ich einfühlsam zu verstehen suche und achtsam reagiere. Eine wohlwollende, verlässliche und einfühlsame Beziehung benötigt jeder Mensch wie ein Stück Brot, um Urvertrauen aufzubauen, seine Potenziale zu entfalten und ein befriedigendes, eigenständiges Leben führen zu können.

Bernd Traxl, Sabine Hecklau-Seibert, Karolina Goschiniak und Svenja Heck nähern sich anhand von Fallbeispielen den schillernden Dynamiken in den Interaktionen einer Kindergruppe. Sie betrachten die sogenannte „innere Seite von Inklusion“, um den Ursachen von Exklusionsprozessen auf die Spur zu kommen.

Tauchen Sie im Magazinteil in die Welt der Eltern ein: Jesper, das Kind in Lisas Bauch ist schwer behindert, Ärzte raten zur Abtreibung. Die Eltern ringen um eine Antwort auf eine der schwierigsten Herausforderungen ihres Lebens. Oder in Willis Welt mit seiner Schwester Olivia. „Ich kenne keine einzige Mutter eines behinderten Kindes, die es nötig hat, daran erinnert zu werden, sich auch um die Bedürfnisse ihrer nicht behinderten Kinder zu kümmern“ (Birte Müller).

Wir sollten unsere Bemühungen nicht aufgeben, unser Gegenüber aufmerksam zu „lesen“, manchmal auch anders zu lesen. Dann wird es wahrscheinlicher, in unserem Gegenüber nicht das Gegenteil von uns, sondern viele Gemeinsamkeiten zu entdecken. 

 

Leseproben:

Grafik: Julia Rakuschan
Ursula Stinkes, Portrait
Fachthema
Ursula Stinkes

Leibdialog (Stinkes)

Erste Reflexion einer präreflexiven Erfahrung

Geschwisterkinder, Foto: Kathrin Stahl
Geschwisterkinder, Foto: Kathrin Stahl
Willis Insiderwissen
Birte Müller

Geschwisterkinder

„… Und um mich kümmert sich keiner!“

Freunde beim Birdwatching, Foto: Gottfried Stoppel
Birdwatching, Foto: Gottfried Stoppel
Aus dem Leben
Kerstin Petry

Schwer behindert – leicht bekloppt

Bernd Mann und Christian Kenk wollen anderen Mut machen

Surfen mit Behinderung, Foto: Oliver Schulz
Surfen mit Behinderung, Foto: Oliver Schulz
Sport
Oliver Schulz

Surfen mit Behinderung

Jens packt den Gabelbaum und stemmt sich kräftig gegen den Wind. Mit einer harten Bewegung zieht er das Segel zu sich heran. „Da ist ganz schön viel Power drin.“ Stärke sechs dürfte heute an der Ostsee herrschen – deutlich mehr als angesagt. Die Wellen rollen nicht hoch, aber in kurzen Abständen an den Strand von Großenbrode. Der Wind ist auflandig. „Du musst den Druckpunkt im Segel spüren. Du kannst es waagerecht drehen“, erklärt die ehrenamtliche Helferin Sabine. Sie macht die Bewegungen vor. „Du kannst es aber auch kippen.“

Grafik: Eva Gugg
Grafik: Eva Gugg
Ringen um das eigene Kind
Anke Lübbert

Schwangerschaft: Jesper * 24. 7. 2014 † 17. 7. 2014

Das Kind in Lisas Bauch ist schwerstbehindert, Ärzte raten zur Abtreibung. Die Eltern suchen nach ihrer Antwort auf eine der schwierigsten Fragen des Lebens.

Jugendliche bei Bastelarbeiten
Foto: Brot für die Welt/Dagmar Lassmann
Westjordanland
Agnes Fazekas

Die Kinder vom Berg

Im von „Brot für die Welt“ unterstützten Star Mountain Center bei Ramallah werden Menschen mit intellektuellen Behinderungen gefördert – außerdem wird viel unternommen, um sie in die Gesellschaft zu integrieren. Eine Ausnahme im palästinensischen Westjordanland: Beim Tag der Offenen Tür geht es deshalb vor allem darum, sich bemerkbar zu machen.

Inhalt:

Artikel
Leibdialog (Stinkes)
Pflege als Beziehung und Anerkennung
Der tonische Dialog
Beziehung heißt das Zauberwort
Inklusion in der Frühpädagogik
Schwer behindert – leicht bekloppt
Schwangerschaft: Jesper * 24. 7. 2014 † 17. 7. 2014
Geschwisterkinder
Lösung bei REHA für schwer behinderte Menschen
Begleitung auf der letzten Reise
Andreas und Alexander sprechen für sich selbst!
Schwere Pflege
Die Kinder vom Berg
moso erfindet das Sitzen neu: Co-Seat
Hyundai i30 CW GO! 1,4 CVVT mit Start-/Stopp-Automatik
„Barrierefreiheit in den Medien lohnt sich“
Menschen mit Autismus sind vom Gesundheitssystem ausgeschlossen
ÖZIV-Medienpreis zum 10. Mal vergeben
„Nichts über uns ohne uns“ — 2.0
Von Stehrollstühlen und einem Führerschein für Unternehmen
Inklusion für Große
Almrausch
Wohin entwickelt sich Soziale Arbeit?
Kein Mitleidsbonus – einfach Literatur
Surfen mit Behinderung