Karikatur von einem Grabstein am nichtkatholischen Friedhof in Rom

Karikatur von einem Grabstein am nichtkatholischen Friedhof in Rom

aus Heft 4/5/2016 – Aus Grolls Skizzenbuch
Erwin Riess

Ein Grab in Rom

Ein Taxi hatte sie vom Bahnhof Roma Termini in das Testaccio-Viertel hinter dem Aventin gebracht. Herr Groll war sehr aufgeregt. Immer wieder sah er in seinen Unterlagen nach und als nach zwanzig Minuten Fahrt die Pyramide des römischen Volkstribuns Gaius Cestius in Sicht kam, bedeutete er dem Fahrer, er möge auf der Stelle anhalten. Außer der Pyramide, die mit ihren 36 Metern Höhe nicht weltbewegend sei, gebe es in diesem Viertel keine Sehenswürdigkeiten, hatte der Fahrer gemeint, ob er sie nicht zum Forum Romanum bringen solle?

Groll beeilte sich, in den Rollstuhl zu wechseln und nahm, ohne den Fahrer einer Antwort zu würdigen, rasch Fahrt auf. Der Dozent zahlte und folgte seinem Freund, der in eine Seitengasse eingebogen war, in der kleine Gewerbebetriebe und bescheidene Einfamilienhäuser einander abwechselten.

Wieso die Eile?“ fragte der Dozent, aber da war Groll schon durch ein gemauertes Tor in einen Friedhof gerollt. Im weißen Kies hielt er an und schaute verloren um sich, die Räder seines Rollstuhls waren tief eingesunken. Was er denn suche, fragte der Dozent verwundert. Mit einer Handbewegung schnitt Groll ihm das Wort ab und baggerte sich durch den Kies zu einer Gruppe von Jugendlichen durch, die einen Kreis um ihre Lehrerin bildeten. Der Dozent hörte einen vertrauten Klang: österreichisch, genauer gesagt: steirisch. Die Professorin bemühte sich, ihren Schützlingen das Außergewöhnliche dieses Friedhofs näherzubringen. Der cimitero accatolico oder cimitero protestante sei der schönste und ungewöhnlichste Friedhof Roms, erklärte sie und die meisten Jugendlichen hörten auch zu, einige aber hielten sich abseits und waren mit ihren „Wischmaschinen“ beschäftigt, wie Groll die Smartphones nannte. „In der Stadt des Papstes wurden Protestanten, Juden und Atheisten in katholischen Friedhöfen nicht bestattet, für ihre sterblichen Überreste kam nur dieser Friedhof auf den „römischen Wiesen“ in Frage, der eine seit Jahrzehnten bestehende Praxis der Bestattung Andersgläubiger im Jahr 1821 offiziell machte“, führte die Professorin aus. „Wer als Nichtkatholik das Pech hatte, in Rom zu sterben, landete hier. Dies ist auch der Grund, warum die kleine Begräbnisstätte so viele prominente Namen aufweist. 

Neben dem unglücklichen Sohn Goethes, der in Rom seiner Alkoholkrankheit erlag, fanden hier zwei hervorragende Vertreter der englischen Romantik und des politischen Anarchismus ihre Ruhestätte. Percy Bysshe Shelley ertrank, nicht einmal 30-jährig, bei Viareggio in der Toskana und wurde hier bestattet. Und sein Freund, der an Tuberkulose leidende Lyriker John Keats, der vom Ehepaar Shelley in die Sonne Roms geholt wurde und neben der Spanischen Treppe wohnte, starb auch dort – gepflegt von seinem Freund, dem Maler und späteren Botschafter Englands in Rom, Joseph Severn. Keats starb 25-jährig, er ruht neben seinem Freund Severn. Und jetzt frage ich euch: Mary Shelley wurde durch welche von ihr geschaffene Figur berühmt?“

„Donald Duck“, krähte ein hochaufgeschossener Blondschopf. „Frankenstein“, rief da der Dozent. „Richtig“, sagte die Lehrerin. „Der Herr dort hinten bekommt eine Eins für unerwartete Mitarbeit.“ Groll applaudierte, einige Kinder lachten. 

„Ihr wisst doch, was es mit Frankenstein auf sich hat?“ fragte die Professorin weiter.

„Auch ein Schriftsteller?“ meinte ein pausbäckiger Junge mit einem schwarzen Wuschelkopf. Die Professorin ließ sich nicht beirren. „Frankenstein ist ein von Menschenhand vollbrachtes Defektwesen, ein künstlicher Mensch mit einigen Fehlern.“ 

„Ein Behindi!“ sagte ein Bub und erzielte einen Lacherfolg. „Mir nach!“ rief da die Lehrerin und machte eine Geste, als wäre sie ein amerikanischer Reiteroffizier in den Indianerkriegen, der seine Kompanie auf einen Canyon zutreibt. 

Eine kleine Dame in den besten Jahren war auf den Dozenten und Groll zugekommen. In reinem Oxford-Englisch bot sie ihre Hilfe an. Dankend nahm Herr Groll die Hilfe an. Er winkte die Lady zu sich und flüsterte ihr, sie hatte sich neben ihn gehockt, ins Ohr. Ein glückliches Lächeln erhellte ihr Gesicht. Groll winkte dem Dozenten zu, sie verließen den Friedhof und eilten auf dem Gehsteig die Friedhofsmauer entlang. An der höher gelegenen Stirnseite des Friedhofs wartete die Engländerin bereits bei einem geöffneten Gusseisentor. Freudestrahlend deutete die Lady auf das zweite Grab in der Reihe. Groll fuhr ein paar Meter zwischen Pinien und Zypressen. Dann hielt er vor einem schlichten Grabstein und nahm seine Kappe vor dem Grab Antonio Gramscis ab. Der Dozent kam langsam näher. Die Lady verharrte im Hintergrund.