Gemälde von Horst Wäßle mit dem Titel "Drei Frauen", Dispersionsfarbe auf Nessel

Bild: Gemälde von Horst Wäßle mit dem Titel "Drei Frauen", Dispersionsfarbe auf Nessel

aus Heft 1/2016 – Fachthema
Erwin Riess

Umwege zur Lust oder Herr Groll schreibt einen Brief

Lieber Marco!
Wundere Dich nicht über diesen Brief. Lies ihn aufmerksam, aber wirf ihn nicht weg. Es könnte sein, dass Du in kommenden Jahren die eine oder andere Passage nachlesen willst. Bevor ich zur Sache komme, lass mich ein paar Worte über Deinen Vater sagen …

… Ich hatte die Freude, von ihm in Geschichte und Politischer Bildung unterrichtet zu werden. Du weißt, Dein Vater ist impulsiv und begeisterungsfähig, seine mediterrane Prägung gereicht ihm sehr zum Vorteil. Du kennst auch seine Leidenschaft für die alten Römer. Die antike Republik steht ihm näher als die Kaiserzeit. Bei mir ist es umgekehrt, meine Lieblingsepoche ist jene der Soldatenkaiser im vierten Jahrhundert, als die staatliche Ordnung des römischen Reichs zusammengebrochen war und Militärführer aus den entlegensten Provinzen des Reichs sich von ihren Legionen zu Kaisern ausrufen ließen. Zeitweise gab es fünf oder mehr Kaiser gleichzeitig. Niemand wusste, wer wo gerade regierte, die römischen Beamten fuhren auf der Suche nach Zuständigkeit und Unterschrift im Kreis, es war eine rechte Hetz. 

Über all die Jahre ist Dein Vater mir ein guter Freund gewesen. Als wir uns in der Schule kennenlernten, war ein gewisser Leopold Šťastný Trainer der österreichischen Fußballnationalmannschaft, Theodor Adorno hielt Vorträge an der Wiener Universität, der Vietnamkrieg erreichte seinen Höhepunkt und das von der Sowjetunion geführte sozialistische Lager expandierte in den arabischen Raum und nach Afrika. 

Obwohl wir in vielen Fragen unterschiedlicher Auffassung waren, überdauerte die Freundschaft zu Deinem Vater alle Zeitenwenden. Als ich heute einen Brief von ihm öffnete, freute ich mich auf eine historische Abhandlung. Was ich dann aber zu lesen bekam, warf mich fast aus dem Rollstuhl. 

Du seist im Waldviertel in ein abgesoffenes Kaolinbergwerk gesprungen, schrieb er. Knapp unter der Wasseroberfläche lagerten Reste einer Förderanlage. Man hatte sich den Abtransport auf eine Deponie erspart und dafür einen Zaun um den Teich gezogen. Mit den Jahren wurde der Zaun löchrig, doch die Dorfjugend wusste, an welchen Stellen man springen konnte, ohne sich zu verletzen. Du warst mit Deiner Freundin am Teich, und ihr hattet keine Ahnung. So konnte Dein Sprung größer nicht sein. Er führte Dich von der Welt der Gehenden in den Kosmos der Rollenden. Ein klassischer Lagerwechsel. 

In der alten Welt warst Du noch nicht weit fortgeschritten, aber Du kamst zurecht. In der neuen Welt bist Du ein blutiger Anfänger. Die Befunde seien niederschmetternd und klar, eine Querschnittlähmung auf Höhe des fünften Lendenwirbels, dort, wo das Sexualzentrum sitzt, schreibt Dein Vater. 

Auch wenn der anfängliche Schock groß ist: Ich gratuliere Dir zu diesem Befund. Er schafft klare Verhältnisse. Die Chancen, dass Du Dich nicht jahrelang in Alternativ-Therapien aufreibst, Dich mit Deinem Vater durch einen Sumpf von enttäuschten Hoffnungen kämpfst und dabei Energie und Geld verlierst, stehen gut. Wenn man die Seiten wechselt, soll man nicht mit einem Bein auf der alten Seite bleiben wollen. Man wird sonst zerrissen. 

 

Wahrscheinlich wirst Du auch an Selbstmord denken, wenn die schmerzenden und beschämenden Begleiterscheinungen Deiner Verletzung, diese Fußtruppen des Bösen, wieder einmal einen Großangriff gegen deinen Lebenswillen führen. Vier Fünftel aller Querschnittler geben an, sich mit Selbstmord mehr oder minder ernsthaft befasst zu haben. Aber irgendwann ist auch dieses Stadium überwunden, und das neue Leben kann beginnen. Im übrigen ist der Prozentsatz von querschnittgelähmten Menschen, die Suizid verüben, geringer als in der nichtbehinderten Bevölkerung, und du findest gerade unter schwer behinderten Menschen keine Anhänger der aktiven Euthanasie. Dafür gibt es einen Grund: Sie genießen das Leben.

Das Leben genießen

Für nicht wenige Zeitgenossen stellen die lebenslustigen Schwerbehinderten eine Provokation dar, im Besonderen für die Damen und Herren der Sport- und Hedonistenfraktion, die den Euthanasie-Unsinn immer wieder aus der Mottenkiste der Zivilisation holen und sich über die armen Kerle freuen, die von ihrem Umfeld zum Selbstmord mehr oder weniger sanft überredet werden. Ihre „Todeswünsche“ sind ungehörte Hilfeschreie. Man schätzt, dass in den Niederlanden jährlich zwei- bis dreitausend Menschen im Rahmen der „liberalen“ Gesetzgebung gegen ihren Willen getötet werden. Und die Zahl steigt. Weißt Du, wie lange die durchschnittliche Frist zwischen der ersten Äußerung des Todeswunsches und der Tötung ist? Eine Woche! Unsereins hat immer wieder schlechte Phasen, da empfiehlt es sich nicht, mit flapsig hingesagten Todesphrasen um sich zu werfen. Sie könnten gehört werden.

Immer wieder finden sich Zeitgeist-Medien und öffentlich-rechtliche Fernsehsender, die den Euthanasie-Junkies bereitwillig eine Bühne bieten. Das verstehen sie unter Liberalität.*) Kurt Tucholsky wurde einmal gefragt, wie er über die Liberalen denke. Seine Antwort: Mein Hund ist Liberaler. Man muss nun wissen, dass Tucholsky Hunde auf den Tod nicht ausstehen konnte.

Wenn die Ritter vom Euthanasie-Orden durch die Steppen des Zeitgeists reiten, tun sie das nicht ohne Fußtruppen, verstrudelte Philosophen und Ethikspezialisten. Diese produzieren den pseudowissenschaftlichen Rauchvorhang für das fürsorgliche Töten. 

 

Lieber Marco! 

Was die angeblich letzten Fragen angeht, gilt für unsereins: Das Nachdenken über Dinge, die durch Denken nicht zu ändern sind, muss man sich abgewöhnen. Gehen nach Orten, die durch Gehen nicht zu erreichen sind, muss man sich ebenso abgewöhnen. Damit hat sich’s. 

Dein Vater schreibt, dass Du tapfer bist und den Kopf nicht hängen lässt. Das ehrt Dich und bereitet mir Freude. Nur mit einem würdest Du nicht fertigwerden, dem Verlust der Sexualität, die bei Dir erst vor wenigen Jahren aufgeblüht ist. Aus diesem Grund hättest Du auch Deiner Freundin den Zutritt zu Deinem Zimmer im Rehabilitationszentrum verboten. Sie solle Deinen Katheter nicht sehen, solle sich nicht verpflichtet fühlen, solle frei für oder gegen ein Leben mit Dir entscheiden. 

Das, mein verwundeter Knappe, ist die falsche Ritterlichkeit. Lass sie zu Dir, gib ihr und Dir die Chance, einen Weg durch die Terra incognita zu finden. Trennungsgründe kommen noch genug auf Euch zu, glaube mir. Und die wenigsten werden mit Deiner Behinderung zu tun haben. 

Wie Du weißt, bin ich ein Veteran der Independent-Living-Szene, mehr Haudegen denn ein Mann der Worte. Ich schreibe keine Leserbriefe, ich schlitze bei Falschparkern auf Behindertenparkplätzen die Reifen auf oder schütte Zucker in den Tank. Im Alter werde ich ruhiger und lasse es mit einem Erdapfel im Auspuffrohr oder einem abgerissenen Rückspiegel bewenden. Freunde aus der Szene nennen mich Dinosaurier oder, schlimmer noch, Fossil. Doch von meinen Versteinerungen soll hier nicht die Rede sein.

 Sprechen wir von Dir und Deiner – angeblich abgeschafften – Sexualität. Beginnen wir bei der Infrastruktur, den räumlichen und technischen Voraussetzungen für sexuelle Begegnungen, befassen wir uns mit der Logistik der Lust. 

Ungestörtes Vögeln setzt eine Wohnung oder ein Haus und ein nicht zu schmales Bett voraus. Du wohnst bei Deinem Vater in einem Durchbruchstal an der Donau. Das ist gut, denn die Donau ist für unsereins nicht nur ihrer rollstuhlgerechten Uferbegleitwege wegen ein Glücksfall. Der Strom fördert gleichermaßen die Weltoffenheit und die Schultermuskulatur. Was für die Donau zutrifft, kann bei der Quartierfrage für Rollstuhlbenutzer aber nicht vorausgesetzt werden. 

Ihr werdet Euer Häuschen adaptieren müssen. Ein Lift im Garten, sodass Du die Küche, die Veranda und die Sitzecke im Garten erreichen kannst, eine Hebeplattform für die Stufen bei der Garage und eine berollbare Dusche reichen für den Anfang. 

Unter unseren Spitzengewerkschaftern und späteren Sozialministern (eine leuchtende Ausnahme stellte nur der achtzehn Monate amtierende Erwin Buchinger dar) sind nicht nur der Streikfonds des ÖGB und die Gewerkschaftsbank verzockt worden, auch die Zuschüsse und Förderungen für behinderte Menschen wurden stark gekürzt. Irgendwer muss ja für die Chalets und Penthäuser der Elsners und Flöttls gradestehen. Nur dumm, dass wir Schwierigkeiten mit dem Gerade- wie auch mit dem Strammstehen haben. 

Wenn wir um einen Zuschuss für die Adaptierung einer Wohnung oder eines PKW ansuchen, schicken die Beamten uns jetzt auf Betteltour zu „Licht ins Dunkel“, wo Du, wenn Du Glück hast, tausend Euro für einen Lift bekommst, der das vierzigfache kostet. 

In Kenntnis dieses Umstands rate ich daher beim Hausumbau von professionellen Handwerkern, diesen Hohepriestern der Wegekosten, dringend ab und vermittle gern spezialisierte Arbeitstrupps aus Polen, Slowenien – oder Kärnten. Sie arbeiten um zwei Drittel billiger und geben sich nicht mit Papierkram ab. Es ist ja nicht verboten, sich von den Herren Karl-Heinz Grasser und Alfons Eduard Alexander Antonius Maria Andreas Hubertus Christoph Mensdorff-Pouilly inspirieren zu lassen.

Während Dein Vater das Haus umbaut und sich auf die Suche nach einem preiswerten Automatik-PKW macht (auch da sind die Zuschüsse gekürzt, aber auch da vermittle ich gern freischaffende Spezialisten ohne Rechnungslegung), darfst Du nicht untätig bleiben. Du musst beharrlich an deiner Sexualität arbeiten. Was Du jetzt lernst, wird über Dein künftiges Leben entscheiden.

Masturbation

Als erstes empfehle ich Dir regelmäßiges bis exzessives Masturbieren. Es können ruhig mehrere Stunden pro Tag sein, und dabei reden wir nicht von der Nacht. Du musst dich ja einüben, musst herausfinden, was Du spürst, welche Funktionen wie ansprechbar sind, wie es mit der Orgasmusfähigkeit ausschaut. Du musst damit unbedingt schon im Reha-Zentrum beginnen, jede Minute zählt. Mach ihnen die Decke nass! Immer und immer wieder! In Deinem Fall kommt die Eigenliebe vor der Fremdliebe. Denn fehlt der erste Pfeiler, kann der zweite nicht errichtet werden. Auch der – ebenfalls im Rollstuhl sitzende – deutsche Sexualwissenschaftler Lothar Sandfort, Autor nützlicher Bücher zum Thema, betont die Bedeutung der Masturbation gerade in den Anfangsjahren einer Behindertenkarriere.

Fahren wir mit der Grundlagenarbeit fort. Kommen wir zum zweiten Hauptsatz der behinderten Sexualität – dem Satz von der Erhaltung der Limbik. Er besagt, dass sexuelle Energie nicht verlorengeht, sie ändert nur ihre Formen. Daraus folgt schlüssig: Erforsche Deine erogenen Zonen! Jeder Mensch hat Dutzende davon, auch wir haben genug, den Liebesgöttinnen sei Dank. Gliedmaßen und Nerven können ihre Funktionen verlieren; bei erogenen Zonen ist das nur bedingt der Fall, denn sie verfügen über die Fähigkeit zu wandern. Vom Unterleib zu den Brustwarzen ist eine der häufigsten Routen, es können aber auch Stellen am Schulterblatt, der Innenseite der Oberarme oder hinter dem Ohr sein. Finde es heraus! Vielleicht bist Du ein Naturtalent und verfügst über erogene Zonen, von denen die Wissenschaft noch nichts gehört hat. 

Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, erogene Stellen außerhalb des Körpers einzurichten. Gelingt diese Auslagerung, sprechen wir von einem aktivierten Fetisch. Dieser tritt in vielen Ausprägungen auf, die Skala reicht von „hervorragend“ bis „hochproblematisch“. Doch davon später.

Hilfsmittel

Kommen wir zum nächsten Punkt: dem Satz von der Erhaltung der Handlungsfreiheit. Fangen wir mit dem Naheliegenden an: Kontrolliere Deine Medikamente! Sedativa aller Art solltest Du absetzen, Schmerzmittel nur im Notfall nehmen. Besser ein paar Schmerzen mehr als keinen Bock auf Sex!

Der vierte Punkt betrifft den Einsatz von Hilfsmitteln. Diese müssen vorurteilsfrei angeschafft und bedient werden und sollten in großer Bandbreite zur Verfügung stehen. Lass Dir daher von Deiner Freundin technische Hilfsmittel – vom Penisring bis zum Vibrator, von Handschellen bis zum Masturbator – bringen und sorge für einen ausreichenden Vorrat an Batterien. Informiere Dich über das Angebot an Sexhilfsmitteln im Internet, bleibe auf dem Laufenden, experimentiere.

Weiter.

Deine Freundin soll beim Kauf auf Betriebstemperatur und Lautstärke der Geräte achten. Die versierten Damen in den barrierefreien Sexshops führen die Produkte gerne vor. (Ich meine dabei aber nur die fachgerechte Bestückung mit Batterien, Du Lüstling!) 

Du wunderst Dich, warum ich mich beim Punkt Hilfsmittel länger aufhalte? Weil das wichtig ist, werter Kollege. Manche Vibratoren werden nämlich zu heiß, da drohen Verbrennungen – wenn man wenig oder nichts spürt, sollte man darauf achten, welche Love Tools man an sich heranlässt. **) Und da Du im Reha-Zentrum in einem Mehrbettzimmer untergebracht bist, ist es ein Akt der Höflichkeit gegenüber Deinen Kolleginnen und Kollegen, dafür Sorge zu tragen, dass die Vibratoren nicht dröhnen wie Motorrasenmäher. Am besten, Du legst Dir eine nicht zu kleine Sammlung unterschiedlicher Geräte mit unterschiedlichen Amplituden und Frequenzen zu. Die Intensität der Limbik ist ja auch Schwankungen unterworfen, und einen Wechsel zur rechten Zeit hat noch niemand bereut. In harten Zeiten empfiehlt sich auch der gleichzeitige Einsatz mehrerer Geräte. 

Es kann sein, dass man Dir Spezialvibratoren für querschnittgelähmte Männer einreden will. Lass die Finger davon! Sie sind teuer wie ein guter Gebrauchtwagen und können auch nicht mehr als ein Set handelsüblicher Vibratoren. Mit ein paar Dutzend Euro kannst Du Dir eine solide Grundausstattung zulegen. Wenn Du finanziell klamm bist, verwende das Pflegegeld. Den Antrag hast Du hoffentlich längst abgeschickt, bei Genehmigung – und Du kannst davon ausgehen, dass Du Pflegegeld bekommen wirst – hast Du einen Geldbetrag zur Verfügung, mit dem Du Dir einige jener Dinge kaufen kannst, die Dein Leben bereichern. Keine Angst, das ist kein Missbrauch, eben dafür ist das Pflegegeld von uns erkämpft worden, es dient der Erhöhung der Selbständigkeit behinderter Menschen und soll behinderungsbedingte Mehrausgaben zumindest teilweise ausgleichen.

Ergänzungsinvestitionen in Deiner Sammlung von Love Tools werden bald ins Haus stehen, denn die Geräte sind zuverlässig wie Dieselmotoren von Volkswagen. Ich empfehle daher, bei der Auswahl von Herstellern und Produkten zu diversifizieren. 

Vor einem warne ich Dich. Wenn Du glaubst, Viagra sei die bequemere Lösung und Du könntest Dir dadurch die Beachtung der obigen Ratschläge ersparen, liegst du falsch. Dazu eine kleine Geschichte.

Ein Freund, ebenfalls mit einem Querschnitt und im Rollstuhl, rief mich eines Tages in höchster Not zu sich. Ich eilte zu ihm und sah, dass sich vor seiner geöffneten Hose ein Handtuch wie eine Pyramide wölbte. Mein Freund hatte nach einem Test mit Viagra einen Anfall von Priapismus – einen dauernd erigierten Schwanz. Was auf den ersten Blick erstrebenswert schien, war es auf den zweiten beileibe nicht. Er konnte nicht pinkeln und hatte Schmerzen. Als geübter Nothelfer in sexuellen Fragen machte ich das einzig Richtige: Wir tranken drei Flaschen Rotwein in kurzer Zeit. Nach jeder Flasche schrumpfte der Phallus um ein Drittel, und nach der dritten Flasche konnte ich meinem sternhagelvollen Freund zum ersten wiedergewonnenen Harnstrahl gratulieren. Daher: Hände weg von Viagra und anderen Potenzmitteln. Das Headquarter der Firma Pfizer – sie stellte Viagra als erste her – erstreckt sich über mehrere Skyscraper-Blocks zwischen Empire State, Chrysler Building und Grand Central Station im teuersten Geschäftsviertel New Yorks. Du musst den Konzern nicht auch noch fördern.

Solltest Du an Krämpfen laborieren, sind rauchbare Hanfprodukte hilfreich. Für den Sex ist das Gras aber nicht förderlich, besonders bei einer Langzeittherapie. Viele kiffen ihre Lust in Grund und Boden.

Sprechen wir nun von ideologischen Hilfsmitteln, auch Pornos genannt. Deren Verwendung via Computer oder klassische Pornohefte ist fakultativ. Manche stehen darauf, andere wiederum verlassen sich auf ihre Phantasie. Mischformen sind möglich und auch zu empfehlen. Auch die wildeste Phantasie braucht Anregungen. Allzu ausgiebiger Pornofilm-Konsum aber ist kontraproduktiv, man wird dabei ebenfalls zum Junkie, der immer mehr ausgefallene Praktiken braucht, um noch einen hochzukriegen. (Ich meine das nicht im übertragenen Sinne!) 

Der nächste, der sechste Punkt, ist besonders wichtig. 

Auch Deine Freundin muss sich einem Sexualitäts-Erweiterungsprogramm unterziehen. Es wird ihr Schaden nicht sein. Und Du lernst, wie Du trotz Deiner Behinderung eine Frau befriedigen kannst. Glaub mir, das ersetzt drei Zehnerblocks Psychotherapie. Wenn sich im Reha-Zentrum keine Gelegenheit zum sexuellen Austausch bietet, dann besteh darauf, dass man Dich und Deine Freundin neunzig Minuten einsperrt. Die Dauer eines Fußballspiels ist ein guter Anhaltspunkt, es kann ja auch zu einem Nachspiel, sprich einer Verlängerung, kommen. 

Ist das Vorspiel wichtig? Nun ja, man kann es machen, aber bringen tut’s nichts. Zärtlichkeiten sind eher nach dem Vögeln angebracht. Vorher eingesetzt kann es sein, dass sie die Lust einschläfern. Die Herolde des Vorspiels sind Leute, die zu faul zum Vögeln sind.

Die Zeitbeschränkung hat unter anderem den Vorteil, dass man sich nicht zu lange mit dem Vorspiel aufhält. Falls Du von der langsameren Fraktion bist, kannst Du mit dem Vorspiel schon anfangen, wenn Deine Freundin auf dem Weg zu Dir ist. Ein Wischtelefon kann dabei unterstützend wirken, Bild und Ton können hilfreich sein. Aber achte darauf, dass der technische Schnickschnack nicht überhandnimmt. Das Ziel muss sein, jederzeit mit den Mitteln der Natur und allenfalls ein paar mechanischen Hilfsmitteln an jedem Ort der Welt einander so viel Lust bereiten zu können, dass die Vögel vor Schreck auffliegen und voyeuristische Landwirte mit den Traktoren im Kreis pflügen.

Die Grundlagen der Tribologie

Lieber Marco! 

Für unsere Zwecke ist es nützlich, sich auch mit weniger gängigen Wissensgebieten zu befassen. Ich rate Dir: Studiere die Grundlagen der Tribologie. Das ist die Wissenschaft der Berechnung und Messung von Reibung, dem Verschleiß und der erforderlichen Schmierung zwischen aufeinander einwirkenden Oberflächen. Dies schließt auch die Entwicklung von Technologien zur Optimierung von Reibungsvorgängen, die sich als „wechselwirkende Oberflächen in relativer Bewegung“ oder „tribologisches System“ beschreiben lassen, ein. Die Tribologie wird interdisziplinär von Maschinenbauern, Werkstoffwissenschaftlern, Physiker und Chemikern – und sexuell aktiven Menschen angewandt. Die bekannteste Rechengröße der Tribologie ist der Reibungskoeffizient. Beim Sex ist das bekannteste Mittel, diesen günstig zu beeinflussen, das sogenannte Gleitgel. Es wird in Drogeriemärkten in handlichen Gebinden zu Haushaltsmengen abgegeben, wurde aber auch schon in Supermärkten und Tankstellenshops gesichtet. Achte darauf, dass Du immer einen ausreichenden Vorrat bei Dir im Rollstuhlnetz hast! Man weiß nie, wann einen die Lust anspringt. Beachte aber auch die Ablaufdaten, altes Gleitgel wird gemeiniglich nicht als lustfördernd empfunden. Wenn doch, dann handelt es sich um eine fehlgeschlagene Fetischbildung. ***)

Falls ihr Kondome verwendet: Appliziere den Cock Lasting Ring (die Penismanschette aus Gummi, Seide oder Leder) unter dem Kondom. Umgekehrt rutscht der Ring ab und der Reibungskoeffizient ist im Eimer. Weiter.

Früher als „Deformationsfetischismus“ bekannt, bezeichnet heute der Begriff Amelotatismus die sexuelle Vorliebe zu Menschen mit körperlichen Einschränkungen und unterschiedlichen Behinderungsarten. Der Begriff steht für die sexuelle Bevorzugung von Menschen mit Lähmungen, fehlenden Körperteilen, Hilfsmitteln wie Rollstuhl oder Krücken und sehr selten auch die Präferenz zu Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen. Männliche und weibliche Amelotatisten bezeichnen sich selbst häufig als Amelos beziehungsweise Amelinen. Die Mehrheit der Amelotatisten ist männlich. Amelotatismus oder die verwandte Mancophilie ist weder eine Krankheit noch ein sexueller Fetisch, da sich die Vorliebe nicht auf unbelebte Gegenstände richtet. 

Ilse Martin hat sich auf die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas Mancophilie spezialisiert. Sie unterscheidet zwischen Mancophilen, die ihre Neigung als Fetisch ausleben und Menschen mit Handicap auf ihre Behinderung reduzieren und solchen, die sich zu Menschen mit Handicap hingezogen fühlen, aber nicht die Behinderung im Zentrum sehen, sondern den ganzen Menschen. ****)

Du wirst nun fragen: Wie unterscheidet man nun Amelotatisten, die den Menschen mit Handicap als Ganzes sehen, von jenen, die sich nur an einem Handicap erregen wollen. Diese Unterscheidung, sagen Leute aus der Szene, kann man nur lernen, wenn man sich in den Löwenkäfig begibt. Im Internet findest Du Näheres unter den obigen Begriffen, aber Achtung: das Web ist längst von der Pornoindustrie versaut. Von hier zu Snuff-Movies, in denen unter anderem behinderte Menschen geschlagen, missbraucht, ja sogar vor laufender Kamera getötet werden, ist es ein kurzer Weg. Im Übrigen ist nach wie vor die Republik Ungarn Zentrum derartiger Filmproduktionen. Bevorzugt werden Romakinder geschändet. Verbindungen in höchste politische und gesellschaftliche Kreise schützen die Geschäftemacher, deren Produkte weltweiten Absatz finden. *****)

Binsenweisheiten

Kehren wir zum „normalen“ Sex zurück. Streifen wir ein paar Binsenweisheiten und garnieren wir den Rundblick mit nützlichen Hinweisen. 

Erste Binsenweisheit: Geilheit ist wichtiger als Verhütung. Viele Paare, in denen ein oder beide Teile behindert sind, haben wunderbare Kinder und sind großartige Eltern. Das gilt natürlich auch für alleinerziehende behinderte Eltern. Ich empfehle hier das Buch von Martina Hela, einer allein erziehenden behinderten Frau. Du findest ihre Homepage unter ihrem Namen im Netz. Das von ihr verfasste Buch über die Geschichte ihrer Sexualität und Schwangerschaft ist ein Abenteuerroman. Nichts für schwache Nerven! 

Lies ihn. 

Ein nützlicher Hinweis! Zwei Päckchen Taschentücher unterstützen den Sex, aber nimm nur solche, die Du auch mit einer Hand leicht öffnen kannst. Das Herumwursteln mit widerspenstigen Taschentüchern zählt zu jenen lästigen Kleinigkeiten, die geeignet sind, die Limbik zu stören. 

Wenn ihr es schafft und ordentliche Höhepunkte ins Laken stempelt, macht euch keine Gedanken über den von Euch verursachten Lärm. Die Leute im Reha-Zentrum sollen ruhig wissen, dass ihr nicht über einem Kreuzworträtsel brütet, sie werden sich freuen und einander zuzwinkern, und die behinderten, kranken oder verunfallten Kolleginnen und Kollegen werden sich zumindest denken: Warum die und ich nicht? Und werden hoffentlich vom Sexualneid zur Aktion weiterschreiten. Merke: Es gibt nichts Produktiveres als Sexualneid. Man darf ihn nicht unterdrücken, man soll lernen, ihn für sich und seine Lustgewinnung zu nutzen, ich meine das streng egoistisch. Wie soll man denn anderen Menschen Lust bereiten, wenn man das am eigenen Leib nicht schafft?

Einladende Räume 

Weiter. 

Vögeln in Räumen, die nicht fürs Vögeln gemacht sind, sollt Ihr Euch angewöhnen. Das ist nur natürlich und hat sich als hochwirksame Würze nicht nur für den eintönigen Reha-Alltag erwiesen. Auch Kirchen sind dabei nicht auszuschließen. Macht Euch kundig, wie breit die Nischen und Beichtstühle in den Kirchen Eurer Umgebung sind. Erfahrungsgemäß sind protestantische Kirchen diesbezüglich geräumiger, andererseits fehlt dort die puffähnliche Innenausstattung. Synagogen sollen diesbezüglich auch zu empfehlen sein, bei Moscheen wäre ich vorsichtig, speziell wenn es sich um homosexuelle Begegnungen handeln sollte. Juden und Moslems haben keine Beichtstühle, doch ein gutes Plätzchen für die limbische Andacht findet sich überall. Aber das sind nur Informationen von gewöhnlich gut informierten Beobachtern und entbehren eines Doppelchecks. Aus eigener Erfahrung kann ich buddhistische Tempel (es gibt einen an der Donau bei Wien, er steht meistens leer, die Türen sind offen, es gibt keine Stufen) und leer stehende orthodoxe Kirchlein in Zypern und der griechischen Ägäis empfehlen. Aber auch Spielcasinos, Fußballkabinen oder Autowaschstraßen haben ihren Reiz. Es gibt in all diesen Spezialfächern erstaunliche Talente, richtiggehende Aficionados. Ich kenne ein Paar, sie im Rollstuhl, er nicht behindert, das fährt gern an die Adria. Die beiden haben ein ausgeprägtes Faible für Waschstraßen. Die Anfahrtszeiten nach Bibione werden immer länger und in zwei Waschstraßen, eine in der Steiermark, die andere am Wörthersee, haben die beiden Waschverbot. Dennoch ist der Wagen bei der Ankunft am Meer picobello. 

Sollte das Pflegepersonal oder gar Ärzte Dir Vorhaltungen machen, schick sie zum Teufel. An Deinen Selbstheilungskräften zu arbeiten ist keine einfache Sache, da brauchst Du von niemandem einen Rat. Außer von mir natürlich.

Sexualassistentinnen und -assistenten

Von sexueller Hilfeleistung durch Assistentinnen oder Assistenten rate ich ab. Zu groß ist die Gefahr, dass Du in Deiner Arbeitgeber-Rolle unterlaufen wirst und Dich in Abhängigkeit von jemandem begibst, der Dir bei der Bewältigung des Alltags hilft und (über Dich) Lohn erhält. Auch die umgekehrte Variante – er oder sie „bedient“ Dich, um den Job nicht zu verlieren sollte vermieden werden. Auch in diesem Fall würde Abhängigkeit die Kooperation vergiften.

Andererseits: Es gibt Fälle, in denen zwischen behinderten Menschen und Assis aus Zuneigung und Vertrauen mehr wurde. Das berühmteste Beispiel ist Stephen Hawking, der schwerbehinderte englische Physiker. Er verliebte sich in seine Nurse, sie erwiderte seine Liebe, er ließ sich scheiden, und heute leben die beiden schon seit fünfzehn Jahren zusammen. Du siehst, meine Beispiele oder Empfehlungen sind keine starren Regeln, eher Tendenzen und Näherungswerte, deren Berücksichtigung erfahrungsgemäß das Leben leichter macht. Manchmal ist auch das Gegenteil von dem, was ich vorschlage, der Lage angemessen. Es liegt an Dir, herauszufinden, wo Du einen eigenen Weg gehen musst.

 

Lieber Marco! Geschätzter Kollege!

Exzessives Wanking hat noch einen zweiten positiven Effekt. Er liegt im gesellschaftlich-politischen Bereich. Du weißt, als freischaffender Restlinker bin ich auch politisch ein Fossil. Daher eine kurze Belehrung zu Onanie und Kapitalismuskritik.

Exzessives Masturbieren hat, wie mehrfach betont, viele Vorteile. Ein gern übersehener liegt im politischen Bereich. Durch exzessives Masturbieren entziehst Du dem Kapitalismus eine konsumierende Entität, Du hast zum Shoppen keine Kraft und kein Geld, denn erstere hast Du mit Dir und Deiner Freundin aufgearbeitet und zweiteres wandert in Deine Love-Tools-Sammlung. Welthistorisch ist Euer Verhalten von der richtigen Tendenz geprägt und also im Einklang mit der Entwicklung der Produktivkräfte. Bei der so bitter benötigten Umwälzung aller bedrückenden Lebensverhältnisse bringt uns das, wenn schon keinen Schritt, so doch ein paar Orgasmen weiter. 

Lach nicht! Lies weiter!

Die Sexualität ist ihrem Wesen nach antiherrschaftlich und anarchisch. Wenn sie richtig betrieben wird, ist sie – um mit Woody Allen zu sprechen – eine schmutzige Sache, die sich um Konventionen nicht schert. Auch Sophinette Becker, die langjährige Herausgeberin der angesehenen „Zeitschrift für Sexualwissenschaft“, weist immer wieder darauf hin, dass sexuelle Lust nie harmlos ist. ******) 

Die Geschäftemacher und Profitpriester lassen nichts unversucht, auch die Sexualität, diese letzte Bastion einer potentiellen Selbstbestimmtheit, einer lückenlosen Verwertung zu unterziehen. In der Pornoindustrie und der mit osteuropäischen und afrikanischen Frauen oder bulgarischen Romastrichern betriebenen Prostitution kehren sklavenartige Verhältnisse in die aufgeklärten Städte zurück. Dieser Geschäftsbereich lebt von Erniedrigung und Unterwerfung.

Pornoindustrie

Lieber Marco!

Das Ziel der Pornoindustrie ist die Austreibung der Lust. An deren Stelle soll die Sucht treten, die Sucht nach immer ausgefalleneren bizarren Sexualturnereien und entwürdigenden Arrangements, die die Tableaux des Marquis de Sade in den Schatten stellen. 

 

Ganz kann man dem Business nicht entkommen, Du kannst es aber für Deine Zwecke nutzen. Du siehst schon, vom Mainstream kommend, bist Du in eine Art von Partisanenexistenz gerollt. Je früher Du das begreifst, desto besser für Dich und Deine Lieben. Gegenüber der sich überschlagenden Geschäftswelt bestehen wir auf klaren Regeln und freundlichem Verhalten. Bei der Gefahr des Verlusts unserer staatsbürgerlichen Würde achten wir darauf, dass wir in einer Gesellschaft, in der Selbstbestimmung nur für Angehörige von einigen wenigen Eliten Wirklichkeit ist, soviel Autonomie behalten wie nur irgend möglich. Auch deswegen stellen wir für die Welt der Profitmaximierung eine Bedrohung dar. Wir sind rollende Systembremsen oder Geschäftstorpedos, ob wir das wollen oder nicht. Doch davon in einem späteren Brief mehr. In diesem Zusammenhang empfehle ich die Lektüre der Romane von Massimo Carlotto aus Padua. Er kommt aus der lotta continua, und seine Bücher sind auf Deutsch erhältlich. Zieh Dich aber vor der Lektüre warm an. 

Sind Zärtlichkeit und ordentliches Zupacken bis hin zur punktuellen Gewaltanwendung auch unter Einschluss von schmerzhaften Praktiken ein Widerspruch? Nein. Es gilt Mao Tse Tungs Satz aus dem Frühling 1957: „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern.“ Die Hundert-Blumen-Bewegung wurde später abgebrochen, ihre Protagonisten in Arbeitslager gesteckt. Mao setzte daraufhin zur Politik des „Großen Sprunges“ an, mit dem die Rückständigkeit Chinas binnen weniger Jahre überwunden werden sollte. Anstelle großer Stahlwerke, für deren Bau die Devisen fehlten, ließ Mao – einer Praxis des neunzehnten Jahrhunderts folgend – hunderttausende kleine Hochöfen errichten, die die Stahlproduktion auf den Dörfern vervielfachten. Die Qualität des Stahls war aber so schlecht, dass man mit den Produkten wenig anfangen konnte. Weil die Hochofenarbeiter aber auf den Feldern fehlten und das Land darüber hinaus von Dürren und Überschwemmungen heimgesucht wurde, endete der „Große Sprung“ in einer Hungersnot, der Millionen zum Opfer fielen. 

Von den Chinesen lernen, heißt überleben lernen. Gerade wir behinderten Menschen sollten das beherzigen. Allzu große Sprünge sollen wir uns nicht abverlangen. Andererseits dürfen wir uns aber auch nicht mit einer Politik der kleinen Schritte zufriedengeben, denn selbst dazu sind wir meist nicht in der Lage. 

Zwischen großem Sprung und kleinem Schritt liegt unsere Chance, wir sollten sie nützen, um auf die lange Fahrt zur Emanzipation zu gehen. Das können wir, das ist der Kern der Independent-Living-Bewegung. Nirgendwo ist dieser Zusammenhang stärker ausgeprägt als in unserer Sexualität. Wer beim großen Sprung scheitert und Gefahr läuft, bei den kleinen Schritten auf dem Weg zur Lust verdurstet und verdorrt liegen zu bleiben, muss sich andere Ziele setzen. Wir erinnern uns: Das Gehen nach Orten, die durch Gehen nicht zu erreichen sind, muss man sich abgewöhnen. 

Mit fremden Bildern im Kopf lässt sich nichts Eigenes denken und fühlen

Das Festlegen erreichbarer Ziele ist nicht einfach. Auch unser Bewusstsein wird von Modebildern, Klischees, Lügen und Heucheleien überschwemmt. Nimm nur einen besonders erfolgreichen Behinderten-Film, den Streifen „Ziemlich beste Freunde“. Wie verlogen die Geschichte ist, wird klar, wenn man die Ausgangsposition – gelähmter Millionär/anstelliger Schwarzer – umkehrt. Ein gelähmter armer Schwarzer und ein hilfsbereiter nicht behinderter weißer Millionär. Unvorstellbar, dass die beiden zusammenkommen, unvorstellbar, dass der Weiße dem Schwarzen den Arsch auswischt. 

Wenn Du nun einwendest, dass der Film auf einer wahren Begebenheit beruht, so antworte ich: Manchmal lügt auch die Wirklichkeit.

Lars von Triers erster großer Filmerfolg, „Breaking the waves“, ist noch verlogener. Ein durch einen Unfall auf einer Bohrinsel gelähmter Mann zwingt seine Frau, sich für ihn zu prostituieren und ihm von den schlimmsten Begegnungen zu berichten. Nicht so sehr des Geldes wegen. Die liebende Frau gehorcht und taucht in erniedrigende und abstoßende sexuelle Akte ein. Der gelähmte Mann lässt sich detailgenau berichten, er bezieht sexuelle Lust aus dem Verfall seiner Frau. Es kommt, wie es kommen muss. Irgendwann – die Frau ist längst ein Wrack – wird sie von ihrem Mann verstoßen. Ihr Hurendasein widert ihn an. Sie landet endgültig in der Gosse und geht elendiglich zugrunde. An ihrem Grab steht dann die Trauergemeinde und heuchelt Mitgefühl. Unter den Trauergästen befindet sich auch ihr Mann, stehend, ohne Rollstuhl. Ihr Opfertod hat ihm die Macht über seine Beine und über seine Sexualität wiedergegeben. Vor dem Abspann des Filmes sieht man dann noch zwei schwingende Kirchenglocken. Sie läuten der Geopferten auf dem Weg in die Hölle. Die Botschaft des Films: Meidet die Behinderten, sie sind mit dem Bösen im Bunde. 

Nicht nur eine jämmerliche Fabel, sondern auch ein fundamentaler Topos des Christentums, lieber Marco. Behinderte Menschen tauchen entweder als vampirähnliche Schurken oder aber als durchgeistigte Opfer auf. 

Im aktuellen Weltkatechismus der katholischen Kirche, der den verbindlichen Glaubenskanon darstellt, ist uns behinderten Menschen die Rolle kleiner Christusse zugeschrieben, die die Sünden der Menschheit büßen. Keinesfalls dürfen sie gegen ihr „Schicksal“ aufbegehren, sondern haben dieses – auch als Zeichen ihrer Auserwähltheit – demütig anzunehmen. Selbstverständlich schließt diese Opferrolle selbstbestimmte Sexualität aus – und öffnet dem sexuellen Missbrauch, der in christlichen Einrichtungen auf der ganzen Welt millionenfach geübte Praxis war, Tür und Tor. Der 1992 vom polnischen Papst approbierte Weltkatechismus wurde vom gegenwärtigen Wiener Kardinal Christoph Schönborn endredigiert. Er tat dies im Auftrag des Vorsitzenden der Glaubenskongregation des Vatikans, Josef Ratzinger, der später als Papst Benedikt den ultrakonservativen Kirchenkräften ein treuer Diener war. 

Du fragst, warum ich so viel über Ideologien und Politik und so wenig über Zärtlichkeiten schreibe? Ideologien sind das Feld, auf dem die Menschen sich der strukturellen Widersprüche in der Gesellschaft bewusst werden, lieber Marco. Es geht nicht darum, ohne Ideologien zu leben – das ist unmöglich – es geht um Ideologien und Haltungen, die unserer Lage angemessen sind. So gesehen geht es auch bei Ideologien um eine umfassende Zärtlichkeit.

Sex und Zärtlichkeit

 Ohne Zweifel zählen die körperlichen Zärtlichkeiten zu den schönen Abwechslungen im Alltag. Auch im Bett haben sie ihren Platz, aber Vorsicht! Sie bergen auch die Gefahr, dass sie die Sinne ab- statt anregen, das Gerede von den Zärtlichkeiten hat für uns behinderte Leute einen großen Haken. Oft will man uns mit Zärtlichkeiten abspeisen, wo wilder, phantasievoller, unerhörter Sex auch unser Ziel ist. Daher rate ich Dir: Sei beim Wettkampf um den zärtlichsten Liebhaber immer unter den Letzten. Sonst bekommst Du eine schädliche Nachred’ als streichelndes Weichei.

 

Lieber Marco!

Falls Du von meinen Ausführungen eine Auszeit nehmen möchtest, empfehle ich Dir die Webcam der „Schiffsansagestelle Cuxhaven, Alte Liebe“. Sie ist rund ums Jahr in Betrieb und von April bis Ende Oktober sagen alte Seebären und eine Seebärin die vorbeifahrenden Schiffe an, die sich entweder auf dem Weg nach Hamburg oder zum Nord-Ostseekanal befinden oder, von der Innenelbe kommend, dem Ärmelkanal zustreben. Du siehst sie alle, die Riesenpötte mit ihren Containern, die größten Cruise-Ships, dreimal im Jahr auch die Queen Mary II. Du erfährst spannende Dinge wie Länge, Tiefgang, Heimatflagge (viele Exoten, ein Eldorado für Flaggenkundler), Tragfähigkeit, Motorbestückung, Baujahr und Werft, Du lernst viel über die Schifffahrt. So zum Beispiel: Was ist ein Multi Purpose Ship, ein Dredger, ein Feeder-Ship, ein Bulkcarrier oder ein Versorgungsschiff für die Erdölplattformen in der Deutschen Bucht? Was sind die größten Reedereien der Welt? Wusstest Du, dass die China Ocean Shipping Company – ein volkseigener Betrieb – an die zweihundert Schiffe in Dienst hat und ihr europäischer Hauptsitz in Hamburg ist? Dass die Mediterranean Shipping Company MSC mit dem Sitz in Genf und dem legendären Vorstandsvorsitzenden Gianluigi Aponte aus Sorrento an die fünfhundert Schiffe von Genf aus lenkt und die Schweiz zum weltgrößten Rohstoffhändler machte? 

Du siehst viele Schiffe mit Heimathafen Hamburg und verstehst den Reichtum der Stadt besser. Unabdingbares Basiswissen, das einem Schiffbrüchigen hilft, durch die raue See des Lebens zu kommen. By the way; ich habe eine Vorliebe für nautische, militärische und obszöne Metaphern und bin zu alt, da eine Änderung zuzulassen. Das haben schon viele versucht, und alle haben sie kapituliert. Was diese basale Deformation anlangt, die von den einen Spleen, von den anderen Obsession und von wieder anderen Vollknall genannt wird, bin ich austherapiert. Ich weiß, Ärzte verwahren sich gegen diesen bösen Begriff, aber für unsereinen, der ebenso sehr von der Donau– und Meeresschifffahrt geprägt ist wie von der Independent-Living-Bewegung behinderter Menschen, hat dieses Wort eine zweite, verborgene Bedeutung. Wie Du lernen wirst, drehten sich die Kämpfe behinderter Menschen für ein selbstbestimmtes Leben um die Zurückdrängung des medizinischen Begriffes von Behinderung, wie er in Europa bis in die Neunzigerjahre vorherrschte und in Österreich in Parteien, Gewerkschaften, Reha-Zentren und Zeitungsredaktionen heute noch fröhliche Urständ feiert. Behinderte Menschen waren außerhalb der Norm, und wer nicht mittels Stützkorsett und Körperersatzstücken aller Art normähnlich modelliert werden konnte, hatte die Arschkarte gezogen. Wer nicht der Norm entsprach oder entsprechen wollte, der musste krank sein. Krank an Geist und Körper. Und was mit Kranken in solchen Situationen geschieht, das kannst Du in den diversen Studien über Missbrauch und Ausbeutung behinderter Menschen in großen Institutionen nachlesen.

 

Dummerweise können auch wir behinderte Menschen krank werden, aber dann sind wir eben erkrankte behinderte Menschen und nicht von vornherein kranke Defektwesen. In Österreich ist die sogenannte Behindertenpolitik noch immer defektorientiert und nicht lebensorientiert, und die Diskrepanz zwischen den völkerrechtlichen Absichtserklärungen, die Österreich unterzeichnet hat, und der Praxis könnte größer nicht sein. Die langjährige Vorsitzende des UN-Monitoringausschusses Marianne Schulze, die eine bewundernswerte Sisyphusarbeit geleistet hat, trat vor kurzem resigniert zurück. Fehlende finanzielle und politische Unterstützung der Bundesregierung, stellte sie fest. Für diese zynische Form der Politik gegen behinderte Menschen macht sie nicht länger das Aushängeschild. 

 

Lieber Marco! 

Wir sind nicht vom rechten Weg der Sexualität abgekommen, die Erörterung der Lebensumstände behinderter Menschen inkludiert Grundaussagen über ihr Sexualleben. Wenn Du mehr über das Politische in der Sexualität erfahren willst, lies Wilhelm Reich. Das Menschenrecht auf einen Orgasmus ist spätestens seit seinen bahnbrechenden Arbeiten im Wien und im Berlin der Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre bekannt (wenn auch nicht allgemein anerkannt). 

Reden wir über einen Bereich, der bisher tatsächlich zu kurz gekommen ist. Reden wir über Sexualität und Liebe. Hier warne ich Dich vor einer folgenschweren Verwechslung. Die beiden gehören unterschiedlichen Sphären an. Guter Sex mit jemandem, den man nicht liebt aber mag, ist eine famose Sache. Es können auch mehrere Partnerinnen und Partner beteiligt sein, und es ist nicht so wichtig, ob sie voneinander wissen oder nicht. Wer ein eingeschränktes Leben führt, soll im Sex nicht die umfassende, alle Wünsche und Neigungen abdeckende Erfüllung suchen. Eine Crew, die lange auf hoher See war, freut sich über jeden Hafen, unbeschadet von dessen Ausstattung.

Speziell in jungen Jahren gilt: Drei mittlere Vögeleien mit halbwegs erträglichen Menschen sind besser als eine gute. Der Grund: Man lernt bei der größeren Fallzahl mehr über sich und seine Lust. Man getraut sich, Dinge zu tun und nachzufragen, die man einer verehrten oder geliebten Person nicht so ohne weiteres zumuten mag. Und man lernt, seiner Lust zu vertrauen. Man lernt riechen und spüren und man erfährt, was geschieht, wenn einen der Verstand verlässt, aber nicht, um einem Nervenschmerz Platz zu machen, sondern einer nie zuvor erfahrenen Lust.

Glücksfälle des Lebens

Dass beides zusammen – leidenschaftlicher Sex und große, durch nichts behinderte Liebe – möglich ist, zählt zu den Glücksfällen des Lebens. Ich glaube nicht, dass man, um diese Sache zu erleben, Wüsten des Lebens durchquert haben muss, aber ich glaube sehr wohl, dass die durchquerten Wüsten einen wach und aufmerksam machen – auf dass man die große Liebe des Lebens nicht durch Dummheiten wie Kleinmut oder Alkoholisierung verpasst. Wenn es soweit ist, sollst Du das Glück gefälligst leben und das Schrotkugelverfahren einstellen. Das Handwerk aber, das mit der Erfahrung und der Vielfalt in Deinen sexuellen Lehrjahren wächst, darfst Du nicht vernachlässigen. Es könnte sein, dass Du es gerade bei Deiner großen Liebe brauchst. Viele erleben es nie, und man kann nicht sagen, dass sie durch schuldhaftes Verhalten leer ausgehen. Aber unschuldig sind sie auch nicht. Unschuldig ist niemand, schon gar nicht, wenn es um Sex geht. Da hat jeder seine Leichen im Keller, und bei manchen ist dieses Wortbild wörtlich zu nehmen.

Das führt mich zur Rolle des Humors, beim Sex. Wer beim Vögeln kudert und kichert, gehört ins Lachkabinett und nicht ins Bett. Die sexuelle Walstatt ist ein existentiell bedeutender Ort – in dieser Hinsicht einer Kinderkrippe oder einem Sarg vergleichbar. Du kannst darin neu geboren werden, Du kannst aber auch tausend Tode sterben. Kein Platz für kindisches Gehabe. 

 

Ein Wort zu Sado-Maso-Praktiken. Auch hier gilt: Alles ist erlaubt, wenn es die Lust fördert und in beiderseitigem Einverständnis geschieht. Entgegen naiven Annahmen ist ja der devote Teil der Beziehung der bestimmende, denn er verschafft dem Partner das Glück der Lustbereitung. Von Würgespielen an improvisierten Galgen – am Höhepunkt wird der Schemel umgestoßen und man baumelt wie ein Viehdieb in einem Western von Howard Hawks – rate ich aber ab. Zwar berichten Würge- und Ertrinkungspraktiker von dionysischen Hochämtern, warnen aber zugleich vor Missbrauch durch Unerfahrene. Wenn das Seil oder das Band nicht fachmännisch befestigt ist, droht nämlich ein Genickbruch. Falls Du den überlebst, bist Du ein hoher Tetra und hättest auch in diesem Zustand noch ausreichende limbische Möglichkeiten. Aber das sind Feinheiten, die uns heute nicht interessieren müssen. Ein Genickbruch dürfte auch bei der Gespielin der amerikanischen Studentin Samantha Fox der Fall gewesen sein, die man während eines Sexspiels aufknüpfte. Frau Fox wurde letztgerichtlich vom Vorwurf des Mordes freigesprochen. Tatsache ist, dass es häufiger als vermutet bei Liebesspielen zu Todesfällen kommt. Das buchstäbliche Aufessen eines Lebensmüden aus sexuellen Gründen ist da nur eine Variante, und nicht einmal die schrecklichste. 

Die wirklich wichtigen Dinge

Ich sehe, Du bist neugierig geworden und fragst nach den wirklich wichtigen Dingen. Du fragst nach dem Austausch von Körpersäften. Trockener oder nasser Sex. Die Antwort wird Dich jetzt nicht mehr überraschen. Es gilt: Quantität schlägt in Qualität um. Also bemühe Dich um die Quantität.

 

Wie viele Divisionen hat der Papst, soll Stalin gefragt haben, und er meinte die ideologische Macht des Vatikans (wie recht er hatte, zeigte sich fünfzig Jahre später, als der polnische Papst im Zangenangriff mit den Amerikanern den Kommunismus ideologisch sturmreif schoss; Dokumente über die engen Absprachen zwischen Rom und Washington wurden erst kürzlich veröffentlicht). Ich modifiziere die Frage nach den Divisionen: Haben wir behinderte Menschen von den Menschenrechten etwas zu erwarten?

In der Erklärung der „Allgemeinen Menschenrechte“ aus dem Jahr 1948 ist niedergelegt, das wichtigste Menschenrecht ist das Recht auf unbeschwertes, ungehindertes und unablässiges Vögeln, und wenn es nicht dort steht, sollte man es schleunigst hineinschreiben. In unserem Fall gelten die Menschenrechte nämlich in verstärktem, zugespitztem Maß. Für behinderte Menschen sind die Menschenrechte eine wichtige Errungenschaft auf dem Weg zur Emanzipation der niederen Stände, die Bedeutung der völkerrechtlichen und zivilgesellschaftlichen Aspekte der Menschenrechte ist nicht zu unterschätzen. Sie sind auch Gegenstand wissenschaftlicher Befassung – in den „Independent Living Studies“, die sich von den angelsächsischen Ländern über Skandinavien und das nördliche Deutschland erstrecken. Zarte Fühler wurden auch nach Österreich ausgefahren, aber sie stecken – seit zwanzig Jahren in Bürokratie und Hinterwäldlertum fest. Der Paternalismus monopolisierter Medien, parteinaher Behinderten- und Sozialhilfeorganisationen sowie streichweichen Dachverbänden und die allgemeine Zurückgebliebenheit der Sozialwissenschaften gegenüber den biologischen und technischen Wissenschaften verhindern jeglichen Fortschritt. Es ist wie vor hundert Jahren beim Kampf um die Studienerlaubnis von Frauen, und wenn die Blockade andauert, werden uns in zehn Jahren Albanien und der Iran in dieser Frage überholt haben. 

Wir fassen zusammen: Die sexuelle Dimension der Menschenrechte für behinderte Menschen ist noch unerforscht. Auch die UN-Behindertenkonvention aus dem Jahr 2008 hält sich da nobel zurück.

 

Lieber Marco! 

Du siehst, die Sexualität dient sowohl der Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft als auch der physischen und psychischen Gesundheit. Nichts fördert Krankheiten mehr als Einsamkeit, Frustration und sexuelle sowie anderweitige Inaktivität. Umgekehrt übt sexuelle Betätigung in welcher Form auch immer (Du erinnerst Dich an das Anfangskapitel über Masturbation), einen nachhaltigen und positiven Einfluss auf die Lebensfreude aus. Dass auch gesundheitsfördernde Aspekte wie die regelmäßige Durchspülung des Urogenitaltrakts und die Belebung der Gehirnaktivitäten im limbischen System des Stammhirns, dem eigentlichen Sexualorgan mitspielen, sei am Rande vermerkt. 

Dies bedenkend, gilt für unsereins eine spezielle Form des Menschenrechts auf Sex, das Wesen dieses Rechts erscheint für uns nämlich als Pflicht zur Ausübung des Menschenrechts auf Sex an jedem Tag – bei Strafe des rezidivierenden Harnwegsinfekts. Beschwerden und Einsprüche sind hier zulässig, das Beschreiten, besser: das Befahren des Rechtsweges ist ausgeschlossen.

Sprache

Lieber Marco!

Lass mich mit einem Wort zur Sprache schließen. Verwende nie medizinische Ausdrücke beim Sex. Sprich nicht von Penis und Vagina, Rectum, Warzenvorhof und Döderlein-Zäpfchen*******), sondern verwende liebevolle, poetische Ausdrücke, die ruhig aus dem Dialekt kommen können. Die ordinären Dialektausdrücke hebe Dir für das Endspiel auf. Bei Goethes „Werther“ und den „Wahlverwandtschaften“ sowie bei Diderot, Henry Fielding („Tom Jones“) John Cleland („Fanny Hill“) kannst Du Dir Anregungen holen. Aktuelle Produkte wie „shades of grey“ oder „Feuchtgebiete“ kannst Du getrost vergessen, sie sind Belege für den Niedergang des Genres. Jeder lappländische Amateurporno ist erregender. Die Lappen werden auch Samen genannt, für beide Namen verbitte ich mir billige Assoziationen.

 

Geschätzter Kollege! Lieber Freund! 

Ich habe versucht, Dir einen kleinen Abriss der Dinge zu geben, die auf Dich und Deine Sexualität zukommen. Ich versichere Dir, das meiste ist noch zu erwarten, und ich meine das nicht zynisch. Wir behinderte Menschen haben die Chance, uns frühzeitig von quälenden Rollenbildern zu verabschieden und etwas Neues, Unerhörtes, in Angriff zu nehmen. Der Umweg ist unsere Direttissima, Marco! Es braucht nur Beharrlichkeit, ein wenig Mut und ein paar Informationen. Mit letzteren haben wir eben begonnen. Für alles Übrige gilt: „We cross that bridge when we come to it.“ 

 

Mit herzlichem Donaugruß! Keep on rolling! 

Groll

 

PS: 

Hilf Deinem Vater. Den eigenen Sohn gelähmt zu wissen, ist von den Heimsuchungen, die einen Vater treffen können, eine der schweren. 

 

PPS: Zerbrich Dir nicht den Kopf wegen eines Antwortbriefes. Ich will keine Höflichkeit von Dir, ich will, dass Du Dein Leben in die Hand nimmst. Falls Du den einen oder anderen Rat brauchst, zögere nicht und schreib mir eine Postkarte. Verschone mich mit SMS, E-Mail, Smileys, Likes, Tweets, Apps, Cookies und Druckis und dem übrigen Digitalkram. Ich habe dafür keinen Empfang.

 

 

Dieser Text befindet sich auch im gleichzeitig erscheinenden, von Rudolf Likar und Erwin Riess herausgegebenen Buch: „Unerhörte Lust – Zur Sexualität behinderter und kranker Menschen“. Otto Müller Verlag 2016

 

Anmerkungen:

*) Im „Standard“ vom 25. Juli 2015 beklagt Eric Frey Österreichs zurückgebliebene Liberalität und nennt dabei die aktive Euthanasie an prominenter Stelle.

**) In dem Tatsachenroman „Herr Groll und die ungarische Tragödie“ findest Du beschrieben, wie ein wenig praxistauglicher Vibrator „Rotor III“ eines ehemaligen sowjetischen Rüstungsbetriebs aus Rostow für unsereins gefährlich ist (kein Ausschaltknopf, glühend heiße Spitze, exorbitante Leistung), aber gute Dienste als Waffe leistet. In gegenständlichen Fall half er, die Attacke zweier Kampfhunde zu parieren. 

„Spezialvibratoren für Querschnittler zu verdammen, halte ich für nicht schlau“, bemerkt Eduard Riha, ein Veteran der Behindertenbewegung, seit vielen Jahren im Rollstuhl. „Es gibt eine Reihe von Studien, die auf Tests mit Dutzenden Personen unterschiedlicher Lähmungshöhen beruhen, alle kommen zum Schluss, dass Spezialvibratoren ihre Meriten haben. Diese Hilfsmittel können nämlich etwas, was der kaufbare Vibrator nicht kann: Amplitude (Schwingungsweite – einen bis vier Millimeter) und Frequenz (Schwingungen in der Minute – ca. siebzig bis einhundertdreißig) sind in einer viel größeren Bandbreite stufenlos einstellbar, was kein käufliches, übliches Gerät kann. Diese sind nämlich auf Anforderungen von intakten (nicht durch Lähmung eingeschränkten Reflexbahnen) hin konzipiert und die bewegen sich nun mal in den untersten Bereichen (siehe die obigen Werte). Oder kennst Du jemanden, der beim Wichsen sein Pimmelchen bis zu einhundertdreißig Mal in der Minute rubbeln kann? Wenn ja, gib mir seine Adresse, ich würde ihn gern kennenlernen.“ 

***) Ein in Fragen der Lust bewanderter Freund weist darauf hin, dass Gleitgel sich längere Zeit hält, da es fettfrei ist (weil Fett Kondomgummi auflöst) und somit nicht ranzig werden kann. Das Problem ist aber, dass bei der Entnahme von Gleitgel auch Bakterien und Pilze in die Tube verschleppt werden können. Dadurch kann diese zu einer Brutstätte von Erregern werden. Wenn man bei der Entnahme besondere Vorsicht walten lässt und niemals mit den Fingern zwischen der Öffnung der Tube und dem Intimbereich pendelt, kann nichts passieren. Am besten lässt man das Gel auf die Hand oder auf eine Stelle in der Umgebung der Geschlechtsorgane tropfen. Wichtig ist, dass man dabei die Öffnung der Tube nicht berührt. Bei vorsichtiger Lagerung hält Gleitgel sich länger als drei Monate. Kühle Lagerung (nicht im Eisfach!) kann nicht schaden. 

****) Ilse Martin, homo-mancus-verlag@arcor.de, 2015

*****) siehe Erwin Riess, „Herr Groll und die ungarische Tragödie“, 2. Auflage 2014, Otto Müller Verlag, hier besonders das Vorwort

******) Sophinette Becker. Interviews in „Die Presse, 29. 4. 2015, S. 23 und TAZ, 9.12.2013 und als Herausgeberin gemeinsam mit Margret Hauch und Helmut Leiblein: „Sex, Lügen und Internet. Sexualwissenschaftliche und psychotherapeutische Perspektiven“, Psychosozial-Verlag

*******) Herr Döderlein – Tropfen und Zäpfchen zur Vaginalreinigung – war Verfasser des offiziellen Kommentars zum „Erbgesundheitsgesetz“ Juli 1933, das Zwangssterilisationen und Euthanasie begründete.

 

Es ist selbstredend, dass meine Ausführungen sowohl für hetero- als auch für homosexuelle Beziehungen gelten.

 

Anhang: 

Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte, United Nations, 1948

Artikel 25 

Jede Person hat das Recht auf einen Lebensstandard, der ihr und ihrer Familie Gesundheit und Wohlergehen gewährleistet, inklusive Nahrung, Kleidung, Wohnung, medizinische Versorgung und notwendige soziale Leistungen sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Behinderung oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust ihres Lebensunterhalts durch Umstände, auf die sie keinen Einfluss hat. 

UN-Behindertenrechtskonvention, 2008

Artikel 5

Die Vertragsstaaten verbieten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderung gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung.

 

Artikel 19

Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern, indem sie unter anderem gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben.

 

Dr. Erwin Riess 

Geboren 1957, Gesellschaftswissenschaftler und Schriftsteller, schreibt Geschichten vom Herrn Groll in diversen Zeitungen und Zeitschriften (zum Beispiel auch in Behinderte Menschen, s. S. 73), Romane und Theaterstücke, Rollstuhlfahrer, Aktivist der Behindertenbewegung, lebt in Wien und Pörtschach.