proeve_leseprobe

 

aus Heft 2/2015 – Grenzenlos Reisen
Andreas Pröve

Allein im tibetischen Hochland

Andreas Pröve hat sich ein großes Ziel gesetzt: eine über 5000 Kilometer lange Rollstuhlreise entlang des Mekong von Vietnam bis hinauf zu seiner Mündung im tibetischen Hochland. Dabei wird er mit ungeahnten Gefahren konfrontiert.

Das Tal, in dem der Fluss zu einem Rinnsal schrumpft, öffnet sich nun und fächert sich weit auf. Ich sehe keine schneebedeckten Gipfel, keine Felstürme, keine von Gletschern flankierten Bergmassive. Mein Klischee von Tibet wird nicht bedient. Genau genommen bin ich nicht in Tibet, sondern in der chinesischen Provinz Qinghai, in der das tibetische Hochland liegt und der Mekong entspringt. Erst dann fließt er durch Tibet und erreicht nach circa 400 Kilometern die chinesische Provinz Yunnan. Gleichwohl würde mir jeder an der Straße bestätigen, in Tibet zu sein. 90 Prozent der Einwohner von Yushu sind Tibeter, die tibetische Sprache wird hier gesprochen und ihre Kultur gelebt. 

Gebetsfahnen gehören nun zum alltäglichen Anblick in der weiten Landschaft – ebenso grasende Yakherden. Es herrscht absolute Stille. Das Pfeifen des Profils meiner Reifen auf der Straße, das Surren der Kette und mein schweres Atmen sind die einzigen Geräusche. Mir gehen Warnungen durch den Kopf – der Verkehr sei bedrohlich. Nun stelle ich fest, die Gefahr hier überrollt zu werden, besteht definitiv nicht. Gerade einmal zehn Lkw sind mir bisher begegnet. Das Wetter ist akzeptabel und ein Dach über dem Kopf werde ich schon finden. Alle paar Kilometer tauchen Gehöfte an der Straße auf. Zugegebenermaßen werden sie seltener und scheinen kaum Komfort zu versprechen. 

Lästige Begleiter auf vier Beinen

Ich bin mit mir im Reinen. Es war die richtige Entscheidung, die 400 Kilometer nach Zadoi, der letzten Siedlung vor der Quelle des Mekong, in Handarbeit zu bewältigen. Eine Gefahr lauert allerdings. Die Hofhunde der Bauern. Furchterregende Tibetmastiffs, die – wenn sie mich erspähen – wie von Sinnen an ihrer Kette reißen. Zu jedem Hof gehört ein Hund. Zuerst werfe ich einen sorgenvollen Blick auf den Pflock, an dem die Kette befestigt ist und hoffe, dass er hält, bis ich vorüber bin. 

Eigentlich mag ich Hunde. Schließlich können sie – Hundeliebhaber mögen es mir verzeihen – durchaus delikat sein. Ich bin durch China gereist. Ja, ich mag sie, es sei denn, ich werde von ihnen Zähne fletschend und Speichel triefend verfolgt; es sei denn, sie springen mich an, um mich zu zerfleischen, abzulecken oder mir auf den Mund zu küssen. Vorher weiß man das bei ihnen ja nie, es sei denn sie kacken mir in den Weg oder an den Gartenzaun. Weil Hunde all das so gerne machen, stehe ich mit ihnen auf Kriegsfuß. Genauer gesagt: mit denjenigen, die sie das machen lassen – mit Herrchen und Frauchen, denen die Vorstellungskraft fehlt für das, was ihr Liebling bei anderen auslöst. Bei einer Kopfhöhe von 140 Zentimetern fühle ich mich neben einem halb so großen Raubtier schlicht und einfach unwohl. Solange sie also Abstand halten oder nicht größer als unsere Katzen sind, mag ich sie. 

Hier im tibetischen Hochland sind sie allerdings von anderem Kaliber, wollen nicht Schoßhund sein, sondern ihre Pflicht tun – Haus und Hof vor dem bedrohlichen Eindringling auf vier Rädern schützen. Dafür sind die Tibetmastiffs, eine der ältesten bekannten Hunderassen, berühmt. Für ihre Treue, den unbedingten Willen, das Territorium zu verteidigen und die Kraft, die sie entfalten können. Zu viel Kraft für meinen Geschmack und zu viel für die altersschwache Leine – und den lächerlichen Pflock, an dem der Hund und vielleicht mein Schicksal hängt. 

Ich ahne, dass ihn nichts davon abhalten wird, mich zu hetzen. Das erkenne ich bereits von Weitem, noch bevor der Hund mich bemerkt hat. Jetzt schießt er los, reißt den Pflock heraus, der nun an der Leine hinter ihm hertanzt. Sein Jagdtrieb sieht nur mich, sonst nichts. Ich – ganz Opfer – stelle meine Nackenhaare auf und folge schleunigst meinem Fluchtinstinkt. Dumm, dass mich der mangelnde Sauerstoff drosselt. Ich befinde mich auf 3500 Meter. Gegen die besser proportionierte Lunge und die Atemfrequenz meines aggressiven Verfolgers habe ich trotz des Vorsprungs keine Chance.

Jetzt, wo er mich fast hat, ist es mir ziemlich egal, ob mein Knüppel auf einen edlen Mastiff von blauem Blut oder einen Promenadenbastard niederfährt, es geht ums Überleben – und zwar um meines. Ja, in der Tat. Es sind nicht die an sich schon dramatischen Folgen einer Bisswunde in Arm oder Hand. Gliedmaßen, deren Unversehrtheit umso wichtiger ist, weil sie meine Beine ersetzen. Es geht um Tollwut! 

Die Durchseuchung in China steht in der Welt an zweithöchster Stelle (gleich nach Indien) und ich bin nicht geimpft. Erwischt mich die Bestie, der ich nicht ansehen kann, ob sie infiziert ist, muss ich auf dem schnellsten Wege ins nächste Krankenhaus, um mir nachträglich eine Impfung geben zu lassen. Getrieben von der Tatsache, dass Yushus Krankenhaus Tage entfernt ist und der grausigen Vorstellung, einem chinesischen Hausarzt mein Problem erklären zu müssen, was sicher mit meinem vorzeitigen Ableben einher ginge, ziehe ich es vor, den Turbolader einzuschalten. 

Mit dem Knüppel drauf zu schlagen, erweist sich als kontraproduktiv, denn ich verliere dadurch wertvolle Sekunden und es beeindruckt den Köter auch nicht sonderlich. Große Steine wären besser. Mein rettendes Ufer ist die Grenze seines Territoriums. Es gibt keine Zäune. Dennoch weiß der Hund genau, wo sein Zuständigkeitsbereich endet. Obwohl er mich leicht hätte kriegen können, bricht er seine Jagd abrupt ab. Sein Bellen, das er mir hinterher schickt, klingt so, als wolle er sagen: Lass dich hier bloß nicht wieder blicken. Das kann er haben, auf solche Abenteuer verzichte ich gerne.

Der Wildnis ausgeliefert

Zum Glück werden diese Art Gehöfte seltener und am späten Nachmittag bleiben sie ganz aus. Damit tut sich ein neues Problem auf. All die Ortschaften auf meiner Landkarte entpuppen sich als Phantome. Sie existieren nicht. Ein Zelt habe ich nicht dabei. Ich kann mich nicht, wie ich bin, ins Gras legen. Aber vermutlich bleibt mir keine andere Wahl. Einzig die dünne Plastikplane, die ich für Notfälle stets mitführe, könnte hilfreich sein. Ich muss eine Entscheidung treffen, denn zum Unglück ziehen dunkle Wolken auf, aus denen sich ein feiner Regen ergießt. Mit den sinkenden Temperaturen zum Abend hin geht er in Schnee über. Jetzt wäre ich sogar zu einem Tabubruch bereit und würde umkehren. Allerdings, das letzte Haus habe ich vor vier Stunden passiert. Das bedeutet: Fahren bis weit in die Dunkelheit – ohne Licht. Keine gute Alternative. Ich setze alles auf eine Karte und hoffe auf das nächste Fahrzeug. Doch es tut sich nichts. Ewig nerven sie mich, die Lkw-Fahrer. Sie überholen knapp, hupen, dass einem die Ohren abfallen und lassen mich in einer Wolke aus Dieselruß zurück. Oft bin ich riesige Umwege gefahren, um ihnen auf einsamen Landstraßen aus dem Weg zu gehen. Diese Straße ist eine von der Lkw-freien Sorte und hätte mich unter anderen Umständen glücklich gemacht. Nun wünsche ich mir nichts mehr als ein Fahrzeug – wenn es sein muss, sogar einen Laster. Aber wenn man sie braucht, sind sie nicht da. Ich gebe mir eine halbe Stunde. Werde ich bis dahin nicht aufgelesen, bleibt mir vor Einbruch der Dunkelheit gerade genug Zeit, einen Schlafplatz zu präparieren. An einer unscheinbaren Einmündung eines Schotterweges harre ich aus – mit aufgestelltem Kragen, dem Schneetreiben den Rücken gekehrt.

Archaisches Gefühl

Es ist ein archaisches Gefühl von Ausgeliefertsein. Verloren stehe ich bei null Grad in einem Nichts aus Schnee und Grasland ohne Aussicht, hier heute noch weg zu kommen. Das Licht ist diffus, die Stille ungeheuerlich.

Wenn mein Schutzengel mich nicht gleich hier wegholt, muss ich im Schnee schlafen. Fünf Minuten gebe ich ihm noch; fünf Minuten, in denen all mein Hoffen und Sehnen auf das rettende Fahrzeug gerichtet ist, das hinter dem Felsvorsprung auftaucht, es muss jeden Moment erscheinen. Ich starre wie besessen auf die Straße, als könnte ich es damit herbeizaubern.